Leseprobe

10 Unerschöpflich ist das Werk des französischen Dichters Stéphane Mallarmé, von dessen Gedichten, Prosagedichten, Essays, Übersetzungen, kritischen Schriften, grammatischen Studien, Texten zur Mode, Briefen und Zeichnungen nur Bruchteile allgemein bekannt oder gar ins Deutsche übersetzt sind. Wer nur die Versgedichte kennt und vielleicht noch die Tradition ihrer Auslegung, wird davon überzeugt sein, Grenzfälle des lyrischen Sprechens und seiner Verstehbarkeit vor sich zu haben, rätselhafte Bilder, elliptische Sätze, strenge Versmaße, die so in keine andere Sprache zu übersetzen sind (Kapitel 2). Bereits mit Blick auf die Pariser Ausstellung und den Katalog zum hundertsten Todestag Mallarmés im Jahr 1998 ändert sich der Eindruck: Die Abbildungen sorgfältig bearbeiteter Typoskripte, gera- dezu kalligraphisch gestalteterManuskripte und zahlreicher Skizzen undDinge geben einen Eindruck von der Fülle dieses Schreibens und erinnern zugleich nachdrücklich an dessen besondere Bindung an bestimmte Materialien (Kapitel 3). 1 Darunter sind besonders viel­ fältig, wie der Pariser Katalog erstmals eindrucksvoll für eine breite Öffentlichkeit erfahrbar macht, die Schreibfarben und Beschreibstoffe, hier wiederum herausgehoben die zugleich alltäglichen und ungewöhnlichen Gegenstände, die Mallarmé beschriftet und beschrieben hat: teils farbige Kartons, Visitenkarten, Briefumschläge und gefaltete Papierfächer mit ja- panischemDekor, die mit allen Sinnen wahrgenommen werden wollen. 2 Für eine geplante Veröffentlichung dieser vermeintlich beiläufig verfassten, aber höchst virtuosen Verse hatte Mallarmé den vielsagenden Titel Vers de circonstance vorge­ sehen, der sich als Verse unter Umständen , Verse zu Anlässen oder auch Gelegenheitsverse über- setzen ließe. 3 Quantitativ der weitaus größere Teil des dichterischen Werkes, sind sie zumal in deutschen Übersetzungen erst noch zu entdecken, und BertrandMarchal hat zu Recht nachdrücklich darauf hingewiesen, dass auch andere – oder alle – Gedichte Mal- 1 Vgl. Yves Peyré (Hg.): Stéphane Mallarmé 1842 – 1898. Un destin d’écriture, Ausst.-Kat. Paris, Musée d’Orsay, Paris 1998.  2 Vgl. die zahlreichen Beispiele ebd; zu Mallarmés Fächergedichten, seiner eigenen Fächersammlung und ihrem Kontext Philippe Rollet (Hg.): Rien qu’un battement aux cieux. L’éventail dans le monde de Stéphane Mallarmé, Ausst.-Kat. Montreuil-sous-Bois 2009. Vgl. zur Untrennbarkeit der Sinneseindrücke und einer Entzifferungskunst, die Schriftbilder und Klangeffekte gleichermaßen berücksichtigt Kurt Weinberg: Ô Rêveuse/Eau Rêveuse. Zu Mallarmés Autre Éventail de Mademoiselle Mallarmé , in: Romanistisches Jahrbuch 33 (1982), S. 134– 147, etwa diese grundsätzliche Bemerkung: »Dem Auge fällt die doppelte Rolle zu, sowohl die in Metaphern und Metonymien verborgenen Bilder als auch noch den etwaigen ›Hieroglyphen‹-Gehalt in der bloßen Gestalt von einzelnen Buchstaben und Interpunktionszeichen zu entdecken, während das Ohr dem gedruckten Wort ebenso sehr Rhythmen, Klangfarben, Kalauer, Paronomasien wie auch homophone Unterströmungen ablauscht, die den Sinn des Oberflächentextes kontrapunktieren, ihn erhöhen, und ihmgelegentlichwidersprechen«, ebd., S. 139. 3 Stéphane Mallarmé: Vers de circonstance. Avec un quatrain autographe, Paris 1920. Der bislang nicht ins Deutsche übertragene Band wurde nach Mallarmés plötzlichem Tod auf der Grundlage seiner Kon- zepte und Notizen von seiner Tochter Geneviève und ihrem Ehemann Edmond Bonniot zusammenge- stellt und veröffentlicht. Zitate im Folgenden, wenn nicht anders angegeben, nach dieser Ausgabe. Das naheliegende Wort Gelegenheit ist in der deutschen Literaturgeschichte mit Goethes sogenannten Ge- legenheitsgedichten assoziiert, vgl. aber zur »Neubestimmung von Gelegenheitsdichtungen« und ihren »unterschiedlichen Ausprägungen« bei Mallarmé, auch in Abgrenzung von Goethes Konzept, neuerdings Klaus Hempfer: Zur Differenz von ›Lyrik‹ und ›Gelegenheitsdichtung‹: Das Beispiel Mallarmé, in: Zeitschrift

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