Leseprobe

12 Briefdinge: Billetts und Umschläge Dieser anachronistische Zug kann auch in Mallarmés Briefkunst auffallen: Sie ist zwar einerseits der modernen Erfindung des Briefumschlags gewidmet, dessen vierzeilige Stan- dard-Beschriftung inMallarmés Adressengedichten poetisch zitiert und überbotenwird. Andererseits begreift Mallarmé diese gefalteten und geklebten Papiere offenbar in erster Linie als Hülle für ein wiederum klassisches Mittel postalischer Korrespondenz: Das Bil- lett, die kleinformatige Briefkarte mit ihrembegrenzten Raum, der wiederumzur Reduk- tion der Gedichtverse auf die bekannte Vierzahl einlädt, ist ihm zugleich Material und Mediumeiner neuen Kunst desWerbens, wie sich vor allem in den zahlreichen Billetts für die Freundin und unerreichbare Geliebte Méry Laurent zeigt. Denn trotz nahezu täglicher Treffen hat Mallarmé ihr über vierzehn Jahre hinweg ständig kleine Botschaften geschickt, diemeist unverstellt eine Huldigung der Schönheit und Anmut ihrer Adressatinmit mehr oder weniger expliziten Formen erotischer Annäherung verbinden, in einem scherzhaft-­ galanten Ton, der an die Virtuosität solcher teils spielerischer Liebesdichtung etwa im französischen Rokoko erinnert (Kapitel 3.2.). 7 Die kleinen Billetts, wörtlich: Zettel, können aber auch die ihrerseits bereits klassische Visitenkarte als Material, Schriftträger und Medium inszenieren, wie es etwa ein spätes Beispiel vom 1. Januar 1896 zeigt. In Frankreich waren kleine Papierkarten – anfänglich der Überlieferung nach zweckentfremdete Spielkarten – bereits im 17. Jahrhundert in adligen Kreisen zunächst für Nachrichten von Besuchern üblich, die den gewünschten Gastgeber nicht angetroffen hatten und zur Information über dieses Verfehlen ihren ge- schriebenen Namen hinterließen. Im 19. Jahrhundert hatte sich ihr Gebrauch längst in die Sphäre des Geschäftslebens verschoben, wo die Visitenkarte gleichsam als Ausweis fun- gieren kann, wie zum Austausch dessen, was man heute Kontaktdaten nennt. Zwischen diesen beiden Polen gibt es jedoch eine traditionell vielgenutzte breite Spanne von Ein- satzmöglichkeiten: Visitenkarten konnten in vornehmen Häusern, die häufig an einem Jour fixe / festgesetzten Tag bestimmte rituelle Formen der Gastfreundschaft zelebrierten, Besucher ankündigen, indem sie bereits vorab überbracht wurden. Noch der berühmte sibirische Bär, seit 1869 im Lübecker Elternhaus Thomas Manns, dann vielfach mit der Familie Mann umgezogen und heute im Literaturhaus München ausgestellt, zeugt mit seiner bereitgehaltenen Ablageschale für solche von (Dienst-)Boten überbrachten Karten von dieser etablierten Praxis. 8 Gedruckte Visitenkarten, wie sie bereits im späten 18. Jahr- hundert üblich und an vielenOrten erhältlichwaren, dienen aber auch als Ersatz für Post- karten, da sie praktischerweise ja bereits den Namen und die Adresse des Absenders tra- gen und meist noch etwas freien Raum, mindestens aber eine leere weiße Rückseite, haben, die für kurze Mitteilungen genutzt werden kann. Wenn die Visitenkarte wiederumbenutzt wird, umeine andere Sendung zu begleiten und gleichsam auszuweisen oder mit einer kurzen Nachricht zu rahmen, so wechselt sie in die Zone des Billetts in seiner ersten, funktionalen Gestalt als Post- oder Zollzettel, der angehängt werdenmusste, umWaren bei der Versendung identifizierbar und ihren Post-

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1