Leseprobe
41 Bildnis der Gattin des Künstlers 1902 Das Zeigen und Verbergen, das suggestive Führen des Betrachterblicks in lichtdurchfluteten häuslichen Inte- rieurs und Türdurchblicken war eine Spezialität in der niederländischen Malerei, aus der Zwintscher Elemente in seine Bildnisse einfließen ließ. Mit der Handbewe- gung der Frau wird der Betrachter in seinem Damen- bildnis auf einen Raum hingewiesen, der unsichtbar bleibt. In Zwintschers Porträt seiner Gattin Adele, das zu Recht als eine Inkunabel der Stilkunst um1900 be- zeichnet wurde, 1 geht es darüber hinaus nicht um ver- steckte Details. Im Gegenteil: Repräsentativ erscheint die schlanke, hochelegante Frauengestalt im Format eines Herrschaftsporträts. Verlässt sie den Raum oder hält sie sich – Modell stehend – nur an der Tür, welche gleichsam die streng rechtwinklig untergliederte Ku- lisse für ihren Auftritt bildet? Das Momenthafte lässt an Fotografie denken. Auch der dem Künstler verbundene Fotograf Hugo Erfurth (1874–1948) positionierte nicht selten Modelle vor hohen, weißen Türen. Die Hand der Dargestellten ist überdeckt von einem Vorhang, der Kälteschutz bot und hier das Bildformat schmaler und höher erscheinen lässt. Die mit Hut und Handschuhen ausgestattete Dame mag im Gehen begriffen sein. Gedeutet wurde das Por- trät »als Bild eines großen Abschieds«, als Zeugnis eines neuen Status des Künstlers und seiner Frau, 2 es wurde mit Leonardo da Vincis Typus der »rätselhaften Frau« 3 ebenso in Verbindung gebracht wie mit Ibsens sich gegen Konventionen auflehnender Heldin Nora 4 sowie mit dem neuen, selbstbewussten Frauentypus der Zeit. 5 Deutungsräume offen zu halten und dabei gleichzeitig sowohl als repräsentativ allgemeingültiges als auch als konkret privates Porträt gelten zu dürfen, ist eine Quali- tät des Bildes. Fein austariert ist zudem die Balance zwischen der berührend genauen Schilderung des Ge- sichts und des Blicks zurück einerseits sowie anderer- seits dem Maß an Stilisierung einschließlich künstle- risch-formaler Erfindungen im Bildganzen. Die Konsequenz, mit der die exakte Silhouette der schwarz Gekleideten im größtmöglichen grafischen Kontrast vor der warmweißen Tür hervorgehoben ist, besticht. Das Volumen der Figur ist nicht betont, ein Tie- fenraum vor der Tür nicht angestrebt – wie eine einge- schobene Kulisse steht der schwarze Streifen des Vor- hangs im Bildvordergrund. Ob der Schärfe der Umrissli- nie und des Schwarz-Weiß-Kontrasts erscheint die Figur schablonenhaft flach: eine Idee der in eine neue Ära der Malerei führenden Abstraktion. Gepaart ist solche Mo- dernität, die Zeitgenossen noch als »gezwungene[s] Körpermotiv« und »mißglückte Raumlösung« 6 kritisierten, mit dem Realismus in der Tiefenmodellierung des schlei- erbedeckten Gesichts und der Hände. Dass auch die scheinbar homogen flächigen Bereiche in feinen Falten und Farbverläufen noch differenziert sind, dass das Schwarz bei weitem kein reines Schwarz ist, ist nur im Original zu sehen. Die gewundenen »Wasserlinien« des gestickten Goldornaments und die strengen Passen am Kragen verstärken die flächige Wirkung. Das warme Rot des Teppichs schafft Raumtiefe; die grafische Entrückt- heit der Gestalt erfährt hier ihre Rückführung in den Raum. Der Maler fand eine solch reduzierte formale Lösung erst in einem umfassenden Arbeitsprozess. Wie die mal- technische Untersuchung ergab, veränderte er Details,
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