Leseprobe

68 Sechs Jahre später signierte und datierte Oskar Zwint- scher ein Gemälde mit einer fast identischen Baum- gruppe vor einem nunmehr nächtlich dunklen Sternen- himmel (in der Stollwerck-Serie ist das Bild »Winter« ebenfalls ein Nachtstück). Die randscharfen Umrisse der Weidenstämme und -äste ähneln Scherenschnitten – einer Schattenkunst, die mit Philipp Otto Runge in der Romantik eine hohe Popularität erreicht hatte. Seine ersten nachweisbaren Nachtbilder hatte Zwint- scher 1895 und 1897 unter den Titeln »Sehnsucht« (Stadtmuseum Meißen) und »Mondnacht« (Städtische Sammlungen Freital) entwickelt. Sie sind allerdings weit- aus erzählerischer angelegt. In den effektvoll inszenier- ten »Weidenbäumen bei Nacht« erscheint keinerlei narra- tives Element – die Naturkulisse in ihrer düsteren Erha- benheit und mystifizierenden Symbolkraft steht allein im Mittelpunkt des Bildes. Motivische Einflüsse von Werken älterer Künstler wie Arnold Böcklin und Franz von Stuck, 2 die Zwintscher bei Aufenthalten in München rezipiert haben konnte, liegen nahe – auch in ihrer Auffassung als Sinnbilder für Tod und Vergänglichkeit, das Unbe- kannte und die »andere Seite«. Mit dem Wissen, dass Zwintscher die Motive seiner Serie in und um Meißen gefunden hatte, lassen sich als möglicher Ort der Inspiration für diese Ansicht Schloss Siebeneichen und sein Park vermuten, in dem Zwint- scher um 1898 auch gezeichnet hatte. 3 Das links der Elbe nahe Meißen gelegene Anwesen war um1800 ein Aufenthaltsort bedeutender Künstler und Literaten, da- runter auch Georg Philipp Friedrich von Hardenberg, der zwischen1797 und1799 wiederholt dort weilte. In eben jenen Jahren verfasste dieser unter dem Pseudonym Novalis seine wirkungsmächtigen »Hymnen an die Nacht« (1800). AD 1 Beiblatt der Fliegenden Blätter 108 (1898), Nr. 2740, S. 84. 2 Vgl. Majerczyk 2019, S. 76–80. 3 Frdl. Hinweis von Martina Fischer, Meißen, Mai 2020. Vgl. AK Dresden 1916, S. 43, Nr. 207.

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