Leseprobe

80 Während Pfründt seine Darstellung des Schmerzes in die Reihe der kanonischen Fünf Sinne stellte und damit dem unmittelbaren zeitgeschichtlichen Kon- text entrückte, schuf sein Lehrer Leonhard Kern mit seiner Skulptur der Menschenfresserin ein schockie- rendes Zeugnis des Kriegselends (ABB. 4) .9 Gezeigt ist eine alte Frau, die nackt auf einem Baumstumpf sitzt. In ihren Händen hält sie ein abgetrenntes menschliches Bein, von dem sie isst. Wohl kaum ein anderes Motiv vermag die Abgründe des Krieges so eindrücklich vor Augen zu führen wie das Bild dieser vom Hunger in den Wahnsinn getriebenen Frau. Dass die Drastik der Darstellung nicht allein der Fantasie des Künstlers entsprang, sondern zur trauri- gen Realität des Krieges gehörte, ist durch erschüt- ternde Zeitzeugenberichte dokumentiert.10 Neben den plastischen Bildwerken finden sich die Schrecken des Krieges als Bildthema vornehm- lich in den Medien der Zeichnung und Grafik. Zahlreiche Werke der niederländischen, französi- schen und deutschen Schule geben das Geschehen auf dem Schlachtfeld, Plünderungsszenen oder Ge- walttätigkeiten zwischen Soldaten und der Zivilbe- völkerung authentisch wieder (ABB.5) . Andere, wie der Reitende Tod von Stefano della Bella (ABB.6) , be- dienten sich dagegen einer allegorischen Bildspra- che, um die Grausamkeiten des Krieges zum Aus- druck zu bringen.11 Die Schrecken des Krieges in Zeitzeugenberichten Ebenso aussagekräftig wie die drastischen Darstel- lungen der bildenden Kunst sind die erhaltenen Be- richte, die persönlichen Aufzeichnungen und die Bittgesuche aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Zu den bekannten Quellen zählen etwa die Chronik von Volkmar Happe, Hofrat in Diensten des Grafen von Schwarzburg-Sondershausen, oder das Tagebuch des Söldners Peter Hagendorf mit Schilderungen über das Soldatenleben, in dem Plünderungen und gewaltsame Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung gang und gäbe waren.12 Anhand ausgewählter, bislang weitgehend unbe- kannter Dokumente aus dem Dresdner Hauptstaats- archiv lassen sich die Auswirkungen des Krieges ex- emplarisch für Sachsen aufzeigen. Über Plünderun- gen und Zerstörungen gab etwa der Amtsschösser Jakob Haunitzsch aus Dippoldiswalde am 21. Januar 1633 Folgendes zu Protokoll: Er habe »[...] auf dem Schloss mit Schmerzen anschauen müssen, dass das Schlosstor mit der Pforte und dem Holzschuppen sowie die Wohnungen des Gärtners und des Land- knechts gänzlich verbrannt worden sind. Es sind auch fast alle Türen und etliche Fenster zerschlagen, die Schlösser weggenommen, die Schränke aufgebro- chen, die Bilder in den Zimmern samt etlichen Ti- schen und Bänken zerschlagen [...]. Aller Vorrat an Zinn-, Messing- und Kupfergefäßen samt Betten und Bettzeug sowie Korn und Hafer aus dem Vorrat ist auch hinfort. [...] Insgesamt ist dieses feine Schloss dermaßen elendiglich und mit solchem Unrat zuge- richtet worden, dass es einem wegen des Gestanks und der hereingebrachten Infektion [Pest] davor graut, sich zurzeit darin aufzuhalten«.13 Aus zahlreichen Orten sind Berichte über Kriegsgräuel überliefert, die von schwedischen Sol- daten verübt worden waren.Von einemTruppeneinfall 1637 in Mittweida heißt es: »[...] wie die schwedi- schen Truppen den Ort tyrannisieren, ist nicht ge- nugsam zu beschreiben. Sie prügeln, martern, kne- beln die armen Leute, gießen ihnenWasser und Mist aus Eimern in die Hälse, dass sie davon sterben müs- sen. [...] Viele sind lahm gehauen und geschlagen, sodass sie gebrechliche Leute bleiben müssen. Unter 100 Bauern kommt nicht einer aus ihren Händen, der nicht geschädigt und geprügelt wurde. Frauen und Jungfrauen wurden geschändet, die Kinder von sechs und acht Jahren geschlagen, damit sie verraten, wo die Eltern die Pferde und Geld haben.«14 4 Menschenfresserin Leonhard Kern, um 1640, Buchsbaumholz, geschnitzt, H. 19,9 cm, Stuttgart, Landesmuseum Württemberg, Inv. Nr. E 799

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