Leseprobe

14 Durch die wissenschaftliche Erschließung des in Vergessenheit geratenen Konvoluts japanischer Arbeiten auf Papier in der Grafi- schen Sammlung des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale) lässt sich dieses in zwei Kategorien aufteilen: Zum einen gibt es 28 meist großformatige Tuscheskizzen und Werkstattentwürfe aus einer der bedeutendsten japanischen Malerschulen, der Kanō-Schule (Abb. 1). Sie hatte sich Mitte des 15. Jahrhunderts in Kyōto unter dem ersten Meister Kanō Masanobu (1432–1530), dessen Familie aus dem nie- deren Feudaladel aus dem Dorf Kanō in der heutigen Präfektur Shi- zuoka entstammen soll, etabliert. Schon früh machte sich in der Kanō- Schule die Tendenz zum Dekorativen bemerkbar, was zu ihrem Markenzeichen werden und ihren Aufstieg befördern sollte. Ihre Mal- weise speiste sich aus zwei Quellen: Die Kanō-Künstler verbanden die Möglichkeiten der monochromen, von der chinesischen Kultur inspirierten Tuschemalerei mit der leuchtenden Farbigkeit der yamato-e – der altjapanischen Malerei. In der Zeit der inneren Befriedung des Inselreichs im 16. Jahrhundert verlangten die neuen Machthaber, ihre Vasallen und die Äbte der großen Klöster nach einer repräsentativen Ausmalung ihrer Schlossburgen und Residenzen durch Kanō-Künstler. Ihre Themen auf Wänden, Schiebetüren und Stellschirmen reichten von Landschaftspanoramen über Wolken ent- steigenden Drachen bis hin zu prachtvollen Vögeln inmitten von Blu- men auf schimmerndem Goldgrund. Nach einer Audienz von Kanō Tanyū (1602–1674) beim Shōgun wurde er zum Hofmaler (goyō-eshi) bestellt. Bis zum Ende der Edo-Zeit im Jahr 1868 konnten die vier Zweige der Kanō-Schule eine dominierende Stellung in der Malerei behaupten. Zum anderen setzt sich der weitaus größere Teil des Bestands aus Druckgrafiken des Ukiyo-e zusammen. Diese ab dem 17. Jahrhundert entworfenen und gedruckten Farbholzschnitte erfreuten sich in den großen Städten des Inselreichs einer besonderen Nachfrage bei einer neuen Klientel – dem zu Wohlstand und Bildung gelangten Bürgertum aus Handwerkern, Händlern und Geldverleihern. Der Einstieg in die Bearbeitung des Konvoluts gestaltete sich sehr schwierig, da zu den getuschten oder gedruckten Werken kaum brauchbare Angaben vorlagen. Es existierte keine Lesung der Künst­ lersignaturen und -siegel oder der Verlegernamen; die Inhalte und Titel der Blätter waren unbekannt; Datierungen lagen ebenfalls nicht vor. Zudem erschwerte die japanische Gepflogenheit, dass Maler im Laufe ihrer Tätigkeit mehrmals ihren Künstlernamen (gō) wechselten, eine rasche und genaue Zuschreibung. Das extremste Beispiel dafür bietet der große Holzschnittmeister Katsushika Hokusai (1760–1848), der in seinem langen Leben etwa 30 Mal seinen Künstlernamen änderte. Auch den berühmten Mimen des Kabuki-Theaters verlieh man im Laufe ihrer Karriere mehrmals neue Namen. Das Kabuki (歌舞伎), wörtlich werden die Schriftzeichen mit »Gesang«, »Tanz« und »Kunstfertigkeit« übersetzt, etablierte sich in der Edo-Zeit (1603– 1868) als bürgerliche Theaterform in Abgrenzung zum älteren, von buddhistischer Weltsicht geprägten und nur in Andeutungen hinter einer Maske gespielten Nō-Theater des Adels. Das Kabuki lebte vom Können der berühmten Schauspieler – ab Mitte des 17. Jahrhunderts wurden die Rollen, auch Frauenrollen, nur noch von Männern gespielt –, von prachtvollen Kostümen und überraschenden Bühnen- effekten. Die Handlung der Stücke verherrlichte die japanische Geschichte, Vasallentreue, Legenden, unheimliche Ereignisse und tragisch endende Liebesbeziehungen. Die Schauspieler wurden zu umschwärmten Stars, die auf zahlreichen Farbholzschnitten verewigt wurden. Da sich das Konvolut der Holzschnitte im Verlauf von gut 100 Jah- ren aus verschiedenen Quellen speiste, weist es kein einheitliches, von den Vorlieben einer Sammlerpersönlichkeit geprägtes Gesicht auf, sondern vereint thematisch vielseitige und künstlerisch anspruchs- volle Blätter von der Hand der bedeutenden Holzschnittentwerfer mit solchen unbekannterer Kleinmeister. In ihrer Variationsbreite bilden sie die Dinge des Alltags, das Leben der Menschen, ihre Vergnügungen und Feste sowie ihre landschaftliche und häusliche Umwelt ab. Einen Schwerpunkt stellen Szenen und Schauspielerporträts des populären Kabuki-Theaters dar. Sie waren eine Spezialität der Utagawa-Schule. Vertreter dieser bedeutenden, von Utagawa Toyoharu (1735–1814) Ende des 18. Jahrhunderts in Edo gegründeten Malschule schufen vor allem Entwürfe für Farbholzschnitte im Ukiyo-e-Stil. Auch 18 aufwendig hergestellte Surimono, die von Dichterzirkeln und Privatpersonen als Glückwunschkarten zu wichtigen Anlässen in Auftrag gegeben wurden, finden sich in diesem Bestand. Wie bei den kommerziellen Farbholzschnitten sind sie von bekannten Zeichnern dieser Gattung entworfen. Die Blätter sind – bis auf einige Ausnahmen, die in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weiterführen – der Edo- oder Tokugawa-Periode (1603–1868) bzw. der Meiji-Periode (1868– 1912) zuzuordnen – den Epochen, welche die Zeit der Selbst- abschottung des Inselreichs vom Anfang des 17. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts und der Öffnung des Landes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter der Regierung des Meiji-Kaisers umfassen. Diese zeitliche Eingrenzung wird aufgehoben durch die vielfältige Wirkung dieser Kunst auf die westliche Malerei, Grafik und Buch- gestaltung sowie das Kunsthandwerk vom 19. Jahrhundert bis in unsere Tage. Roland Steffan Die japanischen Farbholzschnitte des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale)

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