Leseprobe

16 Die Übersetzung des japanischen Begriffs ukiyo-e lautet »Bilder der fließenden Welt«. Das Wort ukiyo wird im Buddhismus verwendet, um die Vergänglichkeit der irdischen Welt und die Begrenztheit des Lebens zu umschreiben. Dahinter steht die Vorstellung, sich durch Geistesschulung und eine religiöse Praxis aus dem leidvollen Dasein zu lösen und die Unvollkommenheit des irdischen Lebens zu über- winden. Der Begriff erfuhr in der Edo-Zeit (1603–1868) einen Bedeutungs- wandel: Die Welt wurde nicht allein in ihrer irdischen Vergänglichkeit, sondern vor allem als Ort des Lebensgenusses und des heiteren Daseins verstanden. Diese Transformation wurde in dem zeit- genössischen populären Roman Erzählungen aus der fließenden Welt (Ukiyo monogatari, 浮世物語) um 1661 von Asai Ryōi (ca. 1612–1691) beschrieben, wenn es etwa heißt: »[ … ] lebend nur für den Augenblick, betrachten wir aufmerksam die Schönheit des Mondes, des Schnees, der Kirschblüten und der Ahornblätter, singen wir Lieder, trinken Wein und lassen uns fröhlich treiben – im Treibenlassen kümmern wir uns nicht um die Armut, die uns ins Gesicht starrt, und wir wei- gern uns, mutlos zu sein gleich einem Kürbis, der in der Strömung des Flusses treibt: dies alles nennen wir die fließende vergängliche Welt [ … ].« Dieser Begriffswandel spiegelte sich seit etwa 1750 in einer hemmungslosen Vergnügungssucht des Bürgertums in den Groß- städten Japans – neben Edo (dem heutigen Tōkyō) vor allem Ōsaka und Kyōto – bis zu ihrer amtlichen Reglementierung im Jahr 1790 wider. Das ausschweifende Lebensgefühl wurde vor allem in der Druckgrafik verbildlicht, die eine enorme Popularität durch die Ein- führung des Mehrfarbendrucks (nishiki-e) erreichte. Es entstand eine eigenständige Kunst für ein kaufkräftiges, gebildetes Bürgertum, das neben seiner Beschäftigung im Handel und Gewerbe Muße hatte, Tee- häuser, Theater, Freudenhäuser, Debattierclubs oder Dichterzirkel zu besuchen und seine Welt im gedruckten Bild zu sammeln. Diese Kunst, die der Kenner und Sammler Richard Lane (1926– 2002) als »die japanischste aller japanischen Kunstformen« bezeich­ nete, hielt die Welt des Theaters, Schauspielstars, schöne Kurtisanen, Sumōringer, Helden der japanischen Geschichte und Spukerschei­ nungen in einer liebevoll-verehrenden, aber auch ironisch-travestie- renden Weise fest. Erst im frühen 19. Jahrhundert kamen Naturdar- stellungen, wie etwa Tiere und Pflanzen, als eigenständiges Thema hinzu, gefolgt von Landschaftsansichten als großer Höhepunkt der japanischen Druckkunst. Auch die Kenntnis des Hochdrucks mittels Holzplatten verdankte Japan seinem Lehrmeister China. Anfangs setzte die buddhistische Geistlichkeit den Holzschnitt zur Vervielfältigung religiöser Texte und erhabener Andachtsbilder ein. Es war aber erst die feudalistische Epoche der Edo-Zeit, in welcher ab etwa 1740 der Vielfarbendruck zu seiner Hochblüte und Popularität gelangte. Jeder traditionelle japanische Farbdruck ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit von Maler, Plattenschneider, Drucker und Verleger, der oft Entdecker und Förderer neuer Künstler, Verantwort- licher für Materialbeschaffung, Koordinator der Arbeitsschritte sowie zuständig für den Vertrieb der Drucke war. Der Künstler lieferte meh- rere Entwürfe und schuf daraus eine bis ins letzte Detail ausge­ arbeitete Vorzeichnung in Tusche auf hauchdünnem Papier. Die Bögen für die Farbdrucke besaßen meist das sogenannte ōban-Format (39,6 × 26,8 cm). Der Plattenschneider klebte diese Zeichnung (han­ shita-e) mit der Bildseite nach unten direkt auf eine etwa 3 cm dicke Platte aus gut gelagertem Kirschholz, das längs der Faser gesägt worden war. Das Papier wurde auf der Rückseite weiter abgeschabt und eingeölt, was die nun spiegelbildliche Zeichnung deutlich durchscheinen ließ. Deren Tuschelinien umschnitt man mit schräg geschliffenen Messerklingen, die übrigen Flächen hob man mit Mei- ßeln aus. Von diesem Konturendruckblock stellte man ein Bündel schwarz-weißer Abzüge her, in die der Künstler die Farben für jeden Bildbereich eintrug. Zwei Passmarken (kentō) verhinderten beim Druck das Ineinanderlaufen oder Überlappen der einzelnen Farb- partien. Nachdem hierfür an die zwölf Platten für die einzelnen Farb- töne geschnitten worden waren – für Sondereffekte wie Präge- oder Glimmerdruck (karazuri und kirara-e) gegebenenfalls mehr –, begann die Arbeit des Druckers. Er legte die Papierbögen auf die eingefärbten Druckplatten, nicht die Druckplatten auf das Papier, und übte mit einem Tampon (baren) aus Bambushüllblättern in kreisenden Bewegungen Druck aus. Im Gegensatz zum chinesischen Farbholz- schnitt kopiert der japanische Farbdruck kein anderes Original, son- dern ist das Kunstwerk an sich. Nach der selbstauferlegten Isolierung in der Edo-Zeit wurden die Kunst und Kultur des Landes nach der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgten Öffnung gegenüber der westlichen Welt dort in schnellem Tempo rezipiert. Auf den Weltausstellungen in Europa, vor allem in Paris, entdeckten die Künstler der Avantgarde die Farbholzschnitte aus Japan. Davon fasziniert, sammelten sie diese und nahmen kennzeichnende Gestaltungsmerkmale in ihre Kunst auf. Impressionismus, Sezessionismus und Expressionismus um 1900 erfuhren durch diese interkulturelle Inspiration wesentliche Impulse. Die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Europa und Amerika ein- setzende Japan-Begeisterung schlug auch den in Prag geborenen Maler und Grafiker Emil Orlik (1870–1932) in ihren Bann. Ihm reichte das Studium der Blätter, die er in westlichen Privat- und Museums- Roland Steffan und Susanna Köller Ukiyo-e und Farbholzschnitt der japanische

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1