Leseprobe
17 sammlungen einsehen konnte, nicht, weshalb er 1900 nach Japan aufbrach, um in Tōkyō und Kyōto bei einheimischen Meistern die Technik des Farbholzschnitts von Grund auf zu erlernen. Die damals gegen den Akademismus aufbegehrenden jungen Künstler fanden in den Gestaltungsregeln der Japaner die Anregungen, die ihnen den Weg zu neuen formalen Lösungen aufzeigten. Von Bedeutung war für sie die Begegnung mit der japanischen Druck- grafik, in der exakte Naturbeobachtung und ihre stilisierte Wieder- gabe, ausschnitthafte Darstellungen der Wirklichkeit, ungewöhnliche Bildformate und die Aussagekraft der leeren Flächen zu entdecken waren. Während seines Aufenthalts von 1900 bis 1901 schuf Orlik 17 Holz- schnitte, in denen er das umsetzte, was er vor Ort gelernt hatte. Dazu gehören auch die beiden Drucke, die Einblick in die Entstehung eines Holzschnitts geben. Er orientierte sich teilweise so eng am japanischen Farbholzschnitt, dass man seine Blätter mit den Vorbildern ver- wechseln könnte. Die großflächigen Motive und ihre vereinfachte Anordnung auf dem Blatt, die Verwendung der Zentralperspektive und eine zurückhaltende Farbigkeit machen jedoch den Unterschied aus. Während in Europa japanische Kunst gefeiert und rezipiert wurde, sank in der Heimat die Wertschätzung der alten japanischen Kultur- traditionen und auch des japanischen Farbholzschnitts. In der Meiji- Zeit (1868–1912) war das Land durch tiefgreifende Veränderungen, die der Kaiser Mutsuhito (1852–1912) während seiner Regentschaft in die Wege leitete, zu einer imperialen Großmacht aufgestiegen und hatte sich den Produkten aus dem Westen geöffnet. Hierzu gehörte auch die Einführung von Anilinfarben ab 1864, die die bisher ver- wendeten mineralischen Farben verdrängten. Die synthetisch her- gestellten Farben waren weitaus günstiger und ließen sich auch leich- ter verarbeiten. Das führte zu einer Veränderung in der Farbpalette, wie man an den grellen Farbkombinationen der späteren Farbholz- schnitte erkennen kann. Auch neue Techniken und Verfahren wie die Fotografie wurden in das ostasiatische Land geholt. Ebenso erweiterten der Kupferstich und die Lithografie den Markt für druckgrafische Massenprodukte. Sie konnten weitaus kostengünstiger erzeugt wer- den als die aufwendig hergestellten Farbholzschnitte, die somit nach und nach aus der Mode kamen. Gleichwohl gab es aber um die Wende zum 20. Jahrhundert auch Bestrebungen, vor allem durch den Verleger und Kunsthändler Watanabe Shōzaburō (1885–1962), die Drucktradition zu erneuern. Zunächst etablierte sich unter dem Begriff »Neue Drucke« (shin-hanga) eine stilistische Richtung, die die traditionellen Gattungen – Schau- spielerporträts, Drucke von Schönen Frauen und Landschaften – auf- griffen. Die Übernahme der westlichen Darstellungsperspektive und Schattierung führte zu einer symbiotischen Einheit, die der Holz- schnitttradition einen Aufschwung bescherte. Allerdings waren diese Blätter im Westen vor allem bei amerikanischen Sammlern weitaus populärer als in der japanischen Heimat. Etwa zur gleichen Zeit etablierte sich eine weitere Richtung, »Schöp- ferische Holzschnitte« (sōsaku-hanga) genannt, die von den Künstlern selbst ausging. Sie lehnten das traditionelle Werkstattsystem ab und führten alle Arbeitsschritte selbst aus. Mit diesem Grundsatz ging ein neues Selbstverständnis des Künstlers einher, sich als alleinigen Schöpfer eines Werkes zu definieren. Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzte sich – verbunden mit dem interkulturellen Austausch – die Sōsaku-hanga-Bewegung durch, die als Erbe der Ukiyo-e-Tradition und als Wiedergeburt der japanischen Druckkunst gilt und bis in die jüngste Gegenwart hinein neue Impulse in diesem alten Medium hervorbringt und weltweit erfolgreich ist.
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1