Leseprobe
Nicolai Abraham Abildgaard Kopenhagen 1743–1809 Frederiksdal Neben seinem Studium von 1764 bis 1772 arbeitete Nicolai Abraham Abildgaard als Assis tent des Historienmalers Johan Mandelberg. Das Reise stipendium, welches er 1771 erhielt, nutzte Abildgaard für eine Romreise, auf der er den Schweizer Maler Johann Hein rich Füssli kennenlernte. 1777 reiste er nach Paris, um Werke Nicolas Poussins zu studieren. Ab 1778 lehrte er als Professor an der Akademie und ebnete u. a. Bertel Thorvaldsen den Weg, aber auch Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge und Christoffer Wilhelm Eckersberg studierten bei ihm. Von 1789 bis 1809 leitete er die Akademie mit Unterbre chungen als Direktor. Als Begründer eines manieristisch inspirierten dänischen Klassi zismus mit romantischen Zügen zählt Abildgaard zu den einflussreichsten dänischen Künstlern des 18. Jahrhun derts, der in der Historien malerei noch lange als Vorbild diente.1 Neben seinem »künstlerischen Antipoden«2 Jens Juel ist er der mit Ab stand älteste Künstler der Sammlung Müller und eine der ersten bedeutenden Persönlichkeiten der Kopen hagener Akademie. G 3959 Die Andacht der Potuaner, nach Ludvig Holberg Öl auf Leinwand, 43 × 36 cm Nicht bezeichnet. Provenienz: Bassenge 2015, Kat.-Nr. A106/6058 A uf einen Wanderstock gestützt, kauert ein Jüngling in Kniebundhosen vor einem Höhleneingang. Äste und Baumblätter säumen das tiefschwarze Loch. Der junge Mann starrt in den Schatten, wo schemenhafte Bäume mit knorrigen Gesichtern auszumachen sind. Abildgaard bedient sich hier motivisch an »Science-Fiction-Stoff« des 18. Jahrhunderts: In »Niels Klims Reise in die Unterwelt« erzählt der literarische Tausend- sassa Ludvig Holberg die fantastische Geschichte eines norwegischen Studenten, der durch den Schacht einer Berghöhle in ein unterirdisches Paralleluniversum auf der Kehrseite der Erde gefallen ist. Genauer gesagt, befinden wir uns mit Abildgaards Ölstudie im siebten Kapitel des Romans, in dem Klim zufällig Zeuge der Andacht der Potuaner für den unbe- greiflichen Gott wird. Die Potuaner im Höhlendunkel sind Bewohner des Staates Potu – eines Anagramms von »Utopie« – und Mischwesen aus Baum und Mensch mit exzentri- schen Ritualen. Regelmäßig ziehen sie sich zurück, um den »Tag des unbegreiflichen Got- tes« zu zelebrieren, der »mit größter Andacht an dunklen Orten, wo die Sonne nicht hin- scheinen kann, gefeiert wird, wodurch sie zeigenwollen, dass die Gottheit, die sie verehren, unbegreiflich ist«.3 Mit seinem 1741 erschienenenWerk hielt Holberg der Gesellschaft einen satirischen Spiegel vor und parodierte das populäre Genre der erfundenen Reisebeschrei- bung. Als aufgeklärter Absolutist bekämpfte er zudem religiöse Intoleranz.4 Die Erstausgabe seines Buches wurde als Kritik der pietistischen Staatsauffassung Christians VI. aufgefasst und erschien deswegen aus gutem Grund anonym in Leipzig. Abildgaard ließ sich oft und gerne literarisch beeinflussen. Geisterhafte, fantastische Szenen hatten es ihm besonders angetan. Wie auch der von ihm bewunderte Füssli, der in seinen Bildern Albträume wahr werden lässt, weiß Abildgaard um die Wirkung dramatischer Lichtkontraste. Angelika Wesenberg datierte die Ölstudie auf 1785/1787.5 CB 1 Luckow/Zbikowski 2005, S. 216. 2 Luckow/Zbikowski 2005, S. 10. 3 Holberg 1970, S. 77. 4 Schneiders 1997, S. 123. 5 Wesenberg 2016. S. 6.
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