Leseprobe

Bereich der Druckgrafik traten Zeichner wie Claes Jansz. Visscher (1586/87–1652) hervor, der auch als Verleger tätig war und somit neuartige Ansichten des eigentlich Altbekannten in breiteren Kreisen popularisierte, nämlich die Landschaft vor der eigenen Haustür, die bislang nicht als bild- und kunstwürdig angesehen worden war. In hohen Auflagen und preiswerter als Gemälde wurden diese Blätter verbreitet und trugen damit zumWandel der Wahrnehmung des eigenen Landes bei. Zu dieser frühen Generation von Heimatent­ deckern gehört auch Jan van de Velde (1593–1641), von dem das Blatt September aus einer Monatsfolge (1608–1618) in der Schweriner Schenkung vorhanden ist (Abb. 1). Englische Zeitgenossen des 17. Jahrhunderts wie Henry Peacham, der 1606 den Traktat The Art of Drawing with the Pen publizierte, stellten nicht ohne Eifersucht fest, dass die Gattungs- bezeichnung »landskip« ein holländisches Wort sei.1 Aber es sind nicht nur die frühen »Realisten«, die Müller interessieren, sondern er hat einen ausgeprägtenHang zur manieristischen Landschaftsdarstellung, was etwa der unter Zeitgenossen geschätzte und in Kopien verbreitete Kupferstich Der Sündenfall von Jan Saenredamnach AbrahamBloemaert illustriert (Abb. 2). Das 1604 datierte Blatt ist der dritte von sechs Stichen der Folge De Geschiedenes van onze eerste ouders . Hier wäre en passant Müllers Interesse an grafischen Folgen zu erwähnen, das mit seiner Lust an einer Erzäh- lung zusammenhängt, die sich über mehrere Bilder hin erstreckt. Auch das kein Wunder, ist doch Müller selbst ein begnadeter Erzähler, der gern ausschweift. Und so tat es auch Bloemaert in diesem herrlichen Bild, das eine Warnung vor sinnlichen Genüssen aus- spricht (wennman die lateinische Beschriftung liest), aber eigentlich die schönen Anlässe desselben vor Augen führt und damit gleichsam zum (optischen) Genuss verführt – wenn man beispielsweise die leuchtenden Pobacken Evas betrachtet, die sich mit erhobener Ferse den Äpfeln entgegenstreckt. Bloemaert hob das Leuchten des nackten Fleisches kon- trastreich durch den dunklen Truthahn hervor, der mit gespreizten Federn zu Füßen Evas platziert ist. Der Truthahnwar um 1600 in Europa ein seltener exotischer Anblick, der Vogel war erst nachder Entdeckung Amerikas zwischen 1519 und 1525 inEuropa bekannt geworden. Conrad Gessner hatte ihn in seinem berühmten Vogel-Kompendium 1555 publiziert und beschrieben: Sein Fleisch sei so schmackhaft, dass man die Mahlzeit für ein Fürstenessen halte.2 Somag die Schmackhaftigkeit des Sündenfalls in ironischer Weise für Eingeweihte durch Bloemaert betont worden sein. Joris Hoefnagel hatte kurz zuvor, nämlich zwischen 1591 und 1599, kostbare Zeichnungen in Wasser- und Deckfarben für die Bände der Vier Elemente geschaffen, die von Kaiser Rudolf II. gekauft wurden. Auf einer dieser Zeichnun- gen, die für den Band Aier (Luft) der Vier Elemente konzipiert war, wird der Truthahn, wie auf dem Kupferstich, mit dem Motiv der Kürbisse kombiniert.3 Die Kürbisse mögen bei Bloemaert auf den jahreszeitlichen Zusammenhang des Herbstes hindeuten, sie dürften mit ihrer phallisch-schwellenden Form und den in ihrem Fruchtfleisch verborgenen Ker- nen zugleich eine sexuelle Anspielung gewesen sein. Niemanden störte es, dass dieser Apfelbaum eher wie eine 100-jährige Eiche aussieht, schließlich ist der sogenannte Sün- denfall auch schon urzeitlich, passt also dieses Motiv in die historische Dimension der Geschichte unserer Ureltern . Für derartige Freiheiten und zweckdienliche Übertreibungen, die sich die manieristische Kunst nimmt, hat Christoph Müller ein tiefes Verständnis. Abb. 2 ® Sündenfall Jan Saenredam nach Abraham Bloemaert, Kupferstich (Kat. 158) 1 Vgl. Busch 1997, S. 120. 2 Zitiert nach Vignau-Wilberg 2017, S. 126. 3 Vgl. Vignau-Wilberg 2017, S. 126, Abb. 37.

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