Leseprobe

und direkte Verbindung mit dem großen Künstler, der gar keine Zeit hatte, ein Alter Meis- ter zu werden, da er 1654 mit jugendlichen 29 Jahren starb, ein Frühvollendeter, wie man einst sagte. Sein gesamtes Œuvre ist überschaubar geblieben und doch, in Anbetracht der kurzen ihm vergönnten Schaffenszeit, erstaunlich umfangreich, vielfältig, wandlungs- reich. Es ist Fragment geblieben und zeugt zugleich von einem bedeutenden Künstler­ dasein. Ebenso zeugt jedes Stück daraus, jede Radierung, jeder originale Abzug, von diesem Lebenswerk. Die Radierung zeigt eine Kuh in der Hauptrolle, einen Bauer imMittelgrund, in der Ferne eine heimische Landschaft – es ist die Essenz von Potters Schaffen. Das Fragmentarische ist die Essenz des menschlichen Lebens. Wer könnte sein Leben, sein Schaffen als abgeschlossen, als vollendet betrachten? Das wäre widersinnig, solange das Leben andauert. Nie erreichen wir den Zustand »alt und lebenssatt«, in dem die bibli- schen Patriarchen aus dieser Welt gingen, selbst wenn manche von uns an Jahren heute bereits in ihre Nähe kommen. Es liegt in der Natur des Lebens selbst, dass es weitergehen, weiterwirken will, selbst wo es abnimmt. Auch der gefallene Stamm der 1000-jährigen Eiche treibt noch aus. Daher kann auch eine Sammlung nie abgeschlossen sein, und sei sie noch so umfang- reich. Die größten Grafiksammlungen unserer Zeit, etwa die Kabinette in Amsterdamoder London, sind zugleich die bedeutendsten Käufer von Druckgrafik. Und so ist es kaum ver- wunderlich, dass ein Sammler niederländischer Gemälde sich auch der Grafik derselben Epoche annimmt, dieser Produktion einer Bilderflut, die weit umfangreicher ist als die Welt der Malerei. Nicht selten gab Grafik die Stichworte, die Vorlagen oder Inspirationen für Malende. Sie eröffnete neue SehweisenundMärkte, auf denen dieMalerei sich anschließend tummeln konnte. Manches, was dort erfundenwurde, brauchte noch Jahrhunderte, umin der Malerei bildwürdig zu werden; man denke an die anspielungsreichen, sinnverwirrenden Kombinationen von Blumen, Insekten, Muscheln und anderen Tieren bei Joris Hoefnagel (Kat. 77–79) oder die vertrackten Bild-Text-Kombinationen der Emblembücher (Abb. 2). Linienspiele Die Druckgrafik ist in mehrfachem Sinn eine vermittelnde Kunst. Im Wort Grafik steckt das Schreiben. ImGravieren der Platte schreiben Künstler ihre Bilder. Es ist die Urformder Kunst, wenn man bedenkt, dass Plinius die Erfindung der Malerei mit dem Schattenriss einleitet, den die Liebende vom Abschied nehmenden Geliebten auf der Wand nachzog. Die Erfindung der Malerei, der Bildenden Kunst überhaupt, war also eigentlich die Erfin- dung der Zeichenkunst, obwohl diese nur eine einzige Linie, die Schattenkante, zog, eine einzige Linie, die als Umschreibung einer Fläche, nämlich des Schattens, einen plastischen Körper festhalten sollte, eine menschliche Person wiedergeben, zumindest ihre Gestalt – ein Fragment. Soweit die Legende. Je früher die Zeugnisse, das wenigstens ist sicher, desto fragmentarischer sind sie erhalten. Man denke an die Fragmente der Vorsokratiker, die Schriftrollen von Qumran oder babylonische Tontäfelchen, das Genom der Neandertaler, die Bohrkerne aus dem Abb. 2 ® Dat, nec habet Unbekannter Radierer, Radierung (Kat. 221)

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