Leseprobe
96 ihre Schulter blickt. Der Engel wird sie erst beruhigen müssen, bevor er ihr seine Botschaft überbringen kann. Auch in diesemWerk demonstrierte Mochi seine völlig neuartige Auffassung von Skulptur und Narration. So schrieb Wittkower, die Verkündigung sei wie eine »Fanfare, die die Skulptur aus Ihrem Schlaf riss«,7 womit er die Überwindung der in ihren Traditionen erstarr- ten Plastik des Manierismus meinte. Die Arbeiten in Orvieto waren ein großer Erfolg und führten dazu, dass Mochi auch in Rom bekannt wurde. So erhielt er von dem aus Florenz stammenden Maffeo Barberini (1568–1644), dem späteren Papst Urban VIII., den prestigiösen Auftrag, eine der vier Statuen für die Famili- enkapelle in Sant’ Andrea della Valle auszuführen.8 Schon als Kardinal war Maffeo Barberini also eine treibende Kraft in der römischen Kunstszene. Die Planungen sahen an den beiden Seiten- wänden der Kapelle jeweils zwei Nischen vor, die mit Statuen auszustatten waren, die von vier verschiedenen Bildhauern ausgeführt werden sollten. Die ersten Aufträge ergingen 1609 an den unbedeutenden Cristoforo Stati (1556–1619), der 1612 eine ziemlich konventionelle Maria Mag- dalena lieferte, und an den in Rom bereits sehr bekannten Nicolas Cordier (1657–1612), der allerdings verstarb, bevor er seinen Johannes der Täufer fertigstellen konnte. Pietro Bernini (1562– 1629), der Vater Gian Lorenzos, schuf bis 1615 den Ersatz.9 Anfang 1610 ergingen die Aufträge für eine Heilige Martha an Francesco Mochi und für eine im Ergebnis belanglose Skulptur des Evangelisten Johannes an Ambrogio Buonvicino (1552–1622). Mochi war der Jüngste in diesem Kreis und arbeitete zunächst zügig an seiner Statue, bis ihn ein neuer Auftrag 1612 nach Piacenza führte, wo er bis 1629 bleiben sollte, um die beiden grandiosen bronzenen Reiterstandbilder für Ranuccio und Alessandro Farnese zu schaffen. Wären diese in Rom aufgestellt worden, hätte die Entwicklung der Barockplastik vielleicht einen anderen Verlauf genommen.10 So war Mochi jedoch für 17 Jahre fast ununterbrochen abwesend aus Rom – dem künstlerischen Epizentrum der damaligen Welt. Erst wiederholtes Urgieren führte dazu, dass Mochi 1621 seine Martha (Abb. 71) schließlich doch noch vollendete.11 Auch sie zeigt das unbändige Talent des Künstlers, der mit ihr eine Figur kreierte, die den vorgegebenen Raum der Nische zu sprengen droht. Anders als seine Kollegen schuf er keine traditionelle Sitzfigur, sondern zeigte die Heilige, die einen Drachen mit Weihwasser tötet, als sich im Vorwärtsschreiten Bückende. Die elegante Figur erzeugt durch das völlige Negieren ihres Umfelds eine Spannung, die ihre Bewegung noch dyna- mischer erscheinen lässt.12 Dieses Prinzip erlebte schließlich seinen Höhepunkt in Mochis römischem Hauptwerk, der Heiligen Veronika (Abb. 72) für die Vierung von Sankt Peter. Maffeo Barberini, der 1623 zum Papst gewählt worden war, nahm Mochi die Verschleppung der Fertigstellung der Heiligen Martha offenbar nicht übel und berief ihn sofort nach der Vollendung der Reiterstandbilder in Piacenza 1629 nach Rom zurück.13 Und in der Tat war es für Mochi höchste Zeit, in die Ewige Stadt zurückzukehren, in der Gian Lorenzo Bernini, der in der Zwischenzeit unter anderem seine spektakulären Gruppen Äneas und Anchises , Raub der Proserpina und Apollo und Daphne geschaf- fen hatte, das Kunstgeschehen auf noch nie dagewesene Weise zu dominieren begann. Bernini war inzwischen auch zum Architekten der Petersbasilika ernannt worden, deren Innenausstattung nun die ganze Aufmerksamkeit galt. Zunächst wurde die Gestaltung der Vie- rung unter der gewaltigen Kuppel Michelangelos in Angriff genommen, in deren Zentrum Bernini seinen 28 Meter hohen bronzenen Baldachin (1624–1633) für den Papstaltar über dem Petrusgrab errichtete (Abb. 74). Für die vier massiven Kuppelpfeiler plante Bernini Nischen, in denen kolossale Skulpturen von Heiligen aufgestellt werden sollten. Das Unterfangen war nicht ohne Risiken, schien doch die dazu nötige Vergrößerung der Nischen zu Rissen in der Kuppel Abb. 71 Francesco Mochi , Heilige Martha , 1610–1621, Marmor, Cappella Barberini, Sant’ Andrea della Valle, Rom
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