Leseprobe

6 Noch einmal zur Kaltnadel zurück. Man muss mit der Hand auf die steil gehaltene Nadel Druck ausüben und dabei die unregelmäßige Gratbildung auf dem Metall steuern. Dazu gehört das Grundgefühl eines Tages, aus einer bestimmten seelischen Verfassung, zur Lust oder zur Melancholie beispielsweise, Beistand durch das Mate­ rial zu haben. Verfolgen Sie die Nadelspur! Allerdings kommt hier dem Druckvorgang auch große Bedeutung zu. Wenn ich bei der Kaltnadel zum Beispiel den Druck auf die Walze zu stark erhöhe, ist schnell der Grat auf der Platte zunichte gemacht. Die kalte Nadel ist von größerer Häufigkeit bei meinen Versuchen, weil sie am schnellsten zu handhaben ist. Der innere Drang von Einfällen wählt sie automatisch. Und das Mittel selbst will auch nur in seinem Sinne behandelt werden, gleich wenn die Vermischung alles Technischen möglich ist, wenn es sein muss. Wer sagte doch, »es gibt die Poesie des Plötzlichen«? Das heißt, auch Improvisationen können einfließen. Es ist immer ein Doppelspiel von Natur und Nichtnatur. Bei allen Gestaltungen kommen die Formzusammenhänge von weit her, wie man so sagt. Das allerwichtigste ist ein Fundament des Zeichnens, der Raum- und Flächenbildung. Sie ist mein Ziel. Ich will keinen Perspektivraum. Technische Effekte verblüffen wohl den ungeübten Betrachter, wir aber erstreben Einfachheit, Ehrlichkeit und Identität. Während des Studiums in Dresden bei Hans Theo Richter wurde im zweiten Studienjahr das Zeichnen der Figuren im Raum als Volumen geübt. In keiner Weise naturalistisch. Bevor diese Fähigkeit nicht erlangt war, sollte keine Grafik (als Selbsttäuschung) gemacht werden. Erst in den letzten fünf Wochen des Semesters erarbeitete man eine erste Radierung und eine erste Lithografie. Mit Hans Theo Richter besuchten wir erstmals das Dresdner Kupferstich-Kabinett, um effektlose Grafik zu sehen. Er zeigte uns Adriaen van Ostade – wie gefielen mir seine kleinen Köpfe als Ätzradierung –, des Weiteren Rembrandt, Johann Gottfried Schadow, Wilhelm Leibl. Von den Dresdner Künstlern nahmen wir die Radierungen von Bernhard Kretzschmar, Hans Körnig und Wilhelm Lachnit wahr. In der Kunsthandlung Kühl, die damals von Bedeutung war, sahen wir Max Liebermann, Wilhelm Lehmbruck, Emil Nolde, Carl Hofer. Bei einer Einladung von Hans Theo Richter in sein Haus sahen wir in seinem Besitz zwei kleine Radierungen von Picasso der frühesten Zeit. So erwarben wir ein Urteil ganz von selbst.

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