Leseprobe
243 Plauen ist Großstadt 56636 Männer und 64636 Frauen. Der entscheidende Faktor war die hohe Beschäftigtenquote von Frauen in der Textilindustrie. Das Textilgewerbe bot insbesondere jüngeren Frauen die Chance auf ein eigenes Einkommen und eine Alter- native zur Beschäftigung als Hausbedienstete. Dies wird eindrucksvoll durch den statistischen Wert des Familienstandes belegt : 1907 waren über 58 Prozent der männlichen Beschäftigten in der Plauener Industrie, einschließlich Bergbau und Baugewerbe, verheiratet, dagegen nur 16 Prozent der Frauen. Besonders aus- geprägt war das zahlenmäßige Übergewicht der Frauen in der Bahnhofsvorstadt, dem Stadtteil, in dem allein ein Viertel aller Betriebe konzentriert war. Hier waren in den Jahren 1908 bis 1910 fast doppelt so viele Arbeite- rinnen wie Arbeiter in der Industrie tätig. Dennoch herrschte aus Sicht der Industrie ein Mangel an Arbei- terinnen, sodass der Fabrikantenverein der Sächsi- schen Stickerei- und Spitzenindustrie darum bemüht war, jüngere Frauen auch außerhalb Sachsens anzu- werben. Drastisch trat der hohe Frauenanteil dann wäh- rend des Ersten Weltkriegs zutage : Zu Beginn des Jah- res 1915 lag er bei 57,2 Prozent und stieg bis 1918 auf über 62 Prozent. Die Abwanderung männlicher Indus triearbeiter aufgrund der kritischen Wirtschaftslage und die Masseneinberufungen der Kriegszeit sorgten zudem dafür, dass sich die Zahl der jährlichen Ehe- schließungen halbierte, während die Zahl der Geburten im letzten Kriegsjahr nur noch etwa ein Drittel des Stan- des von 1914 betrug. Die soziale Struktur der Stadtbevölkerung ent- sprach der Prägung einer Industriestadt des frühen 20. Jahrhunderts. Bereits seit dem Beginn des Booms der Spitzen- und Stickereiindustrie waren neben das klassische Stadtbürgertum, bestehend aus Handwer- kern, Kaufleuten, Beamten und freien Berufen, weitere bürgerliche Gruppen getreten, insbesondere die Ange- stellten sowie die Fabrikbesitzer. Die frühen Großstadt- jahre Plauens waren aber vor allem durch die wach- sende Gruppe der Arbeiterschaft geprägt. Im Jahr 1907 lebten bei einer Gesamteinwohnerzahl von 111 000 Men- schen circa 25000 Arbeiter und Arbeiterinnen in der Stadt, die gemeinsam mit ihren Familienmitgliedern zwi- schen 50 und 60 Prozent der Stadtbevölkerung stellten. Unter der Arbeiterschaft war der Textilsektor führend, in dem in den Jahren 1905 bis 1907 knapp drei Viertel der Beschäftigten und kurz vor Kriegsausbruch 1914 immer noch fast 65 Prozent tätig waren. Eine Besonderheit der sozialen Struktur Plauens bestand zudem in der starken Verbreitung der Lohn- stickerei. Durch die Übernahme des in der Hausweberei verbreiteten Verlagssystems in der Stickereiindustrie war ein erheblicher Teil der Arbeiterschaft selbst ständiger Besitzer von Maschinen und Anlagen und führte – teilweise mit wenigen Familienangehörigen oder Angestellten – Auftragsarbeiten von einem oder mehreren Verlegern aus. Die Lohnsticker waren damit keine Variante des klassischen lohnabhängigen, im 3290 7643 7766 4802 6356 1 894 weiblich 5005 5957 7233 4308 1 578 2577 6895 5762 4580 6259 1 189 männlich 4264 5462 5426 4 214 1 590 63 391 3 80–90 Jahre 70–80 Jahre 60–70 Jahre 50–60 Jahre 40–50 Jahre 30–40 Jahre 25–30 Jahre 20–25 Jahre 15–20 Jahre 10– 15 Jahre 6– 10 Jahre 1 –6 Jahre unter 1 Jahr 90– 100 Jahre 118 750 6 ① Hinterhof in der Stadtmitte. Die Behausung wurde 1912 für den Rathaus- Neubau abgerissen. Stadtarchiv Plauen ② Plauener Bevölkerung nach Altersklassen, 1905
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