Leseprobe

1965/66 371 Zwischen Platte und Prestige Phasen der Wohnbebauung Das bereits in den 50er-Jahren gefasste Vorhaben, mit großflächiger Neubautätigkeit das Wohnungsproblem anzugehen, kam nur langsam in Gang. Zwar entstanden in Plauen 3000 neue Wohnungen, doch konnten diese nicht annähernd den vorhandenen Bedarf decken. Das Bautempo steigerte sich erst in den 60er-Jahren, als im Zuge der Großblock- und Plattenbauweise merkliche Impulse gesetzt werden konnten. Mit der Erschließung neuer, großflächiger Wohngebiete verfolgte man gerade in den vormals schachbrettartig geviertelten Stadttei- len eine »Siedlungsauflockerung« durch halboffene Bauweise. Das brachte Vorteile in der Wohnqualität mit sich, jedoch bedingt durch den Baustil auch jene für den DDR-Städtebau typischen Kontraste. Der »neue Mensch« sollte auch eine neue Umgebung erhalten. Nur aus dem propagierten Bruch mit der gern als »bürgerlich« diffa- mierten Vergangenheit heraus – sowie aus der Tatsa- che permanenter Mittelknappheit – ist die Baupraxis der DDR-Zeit zu verstehen. Sie umfasste kampagnen- artige Wohnbauprogramme genauso wie schillernde Prestigeprojekte und andererseits – in ihrer Unterlas- sung und Passivität – den desaströsen Verfall histori- scher Bausubstanz. Im ersten Jahrfünft der 60er-Jahre entstand auf dem fast komplett zerstörten Areal zwischen August-Bebel- Straße und oberer Bahnlinie ein erstes großes Wohn- gebiet dieses »neuen Typs«. Es wurde gar nicht erst versucht, auf der binnen vieler Jahre beräumten Trüm- merwüste an die ehemalige Straßenstruktur anzuknüp- fen. Das Neubaugebiet östlich der Bahnhofstraße ent- stand in Gestalt mehrerer fünfgeschossiger Wohnblö- cke. Schon bald konnten die ersten Familien einziehen. Für eine Wohnung musste man jedoch – wie bereits erwähnt – nicht einfach nur seinen Bedarf anmelden, sondern vor allem etwas vorweisen. Ein Neumieter, der mit seiner Familie im September 1961 eine Zweieinhalb- zimmerwohnung im Block August-Bebel-Straße 32–36 bezog, musste dafür fast 500 Arbeitsstunden im Natio- nalen Aufbauwerk ableisten. Ein anderes Ehepaar konnte zusammen auf über 1 000 Stunden in der »Auf- baukarte« verweisen und bekam nun »eine schöne, sonnige Wohnung mit Einbauküche, Gasbackofen, Warmwasserspender und Gasheizung in der Küche« – gegen eine Monatsmiete von 40 bis 50 Mark. 1 Wenn man vorher womöglich unter den eingangs beschriebenen Umständen in einem abgewohnten und unkomfortablen Altbau gehaust hatte, stellte dies freilich eine enorme Verbesserung dar – zumal es nicht beim Wohnungsbau an sich blieb. Neubaugebiete erhielten auch eine neue Infrastruktur zur Grundversorgung, in diesem Fall das HO-Einkaufszentrum – die spätere »Kaufhalle Mitte« – sowie die Kinderkrippe »Rudolf Hallmayer« (heute Kita »Zwergenland«). Das neue Viertel profitierte zudem von der Karl-Marx-Oberschule in der Jößnitzer Straße, die 1962 eingeweiht wurde und 700 Mädchen und Jungen in 20 Klassen aufnehmen konnte; wenige Jahre später Clemens Uhlig folgte in unmittelbarer Nachbarschaft mit dem Kinder- garten »Jenny Marx« – benannt nach Karl Marx’ Ehe- frau – die bis dato modernste und größte Einrichtung dieser Art in Plauen. Den sprichwörtlichen Schlusspunkt dieser Bauaktivität östlich der Bahnhofstraße bildeten 1965/66 als Höhendominanten die vier zehngeschossi- gen Punkthäuser beim Oberen Bahnhof, deren Bau ver- glichen mit gewöhnlichen Wohnneubaublöcken übri- gens doppelt so viel Geld kostete. Auf dem Dachgarten eines dieser Punkthäuser interviewte das »Radio DDR« im Sommer 1968 im Vorfeld des Spitzenfestes – bei bes- ter Fernsicht – die offenbar sehr zufriedenen Neumie- ter. Gelobt wurden neben dem schönen Blick vor allem der Wohnkomfort mit Zentralheizung, permanentem Warmwasser (»Das ist ständig da!«) sowie die »schöne moderne Küche«. Der Reporterin fiel außerdem ein klei- ner »Kulturraum« auf, wo regelmäßig Dachgartenfeste veranstaltet wurden. Auch das war Sozialismus : Das »Wohnkollektiv« sollte »zusammenrücken« und erhielt dafür Raum. Wenige Hundert Meter entfernt war ein Jahr zuvor (1967) ein kombiniertes Apartment- und Ge- schäftshaus in Gestalt des »Kopfhauses« eröffnet wor- Zwischen Platte und Prestige Stadtentwicklung und Stadt- verfall unter sozialistischen Vorzeichen ① Sozialistisches Wohnidyll im Neubaugebiet Suttenwiese, 1968 Hans Herold

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