Leseprobe
40 Kindheit – Jugend Meine Mutter Hildegard Stilijanov wurde am 23. März 1905 in Dresden als Tochter von Max Paul Eulitz und Paulina Hulda Hummel geboren und wuchs mit ihren beiden jün geren Brüdern auf. Ihr Vater erhielt seine Ausbildung als Maschinenbauschlosser, spielte Trompete und machte nach 1918 Karriere als Leiter des Unfallkommandos. Seiner aufopferungsvollen Liebe und Fürsorge – meine Großmut ter war schwer krank – verdanken wir sehr viel. Über ihre Kindheit schrieb meine Mutter in dem für mich angelegten Tagebuch: [. . .] bummelte langsam nach der Leisnigerstraße, der Straße meiner Kindheit. Dort in der Nr. 62 lebte ich seit meinem 7. – 22. Jahr. Ach, wie viel liebe Erinnerungen wurden da wach. An jedem Lädchen, jedem Platz steckten Kindheitserlebnisse, die wach wurden als ich vorbeiging – welch eine Süße. – Da war der Garten der Groß mutter im Nebenhaus der 66, der gleich das erste ist, wenn man in den Hof kommt. Die Großmutter wohnte im Erdge schoß, vom Küchenfenster konnte man den Garten sehen. Es war ein herrlicher Garten. Viele Rosen blühten da, es gab Aurikel, im Frühling Tulpen, Himmelschlüssel, Stiefmütter chen. Man konnte, wenn es Mutter, so nannte ich meine Großmutter, erlaubte, große frische Möhren ziehen, sie im Wasserfass absprühen und dann essen, auch Zwiebelschlot ten waren sehr beliebt – zum Butterbrot – vom Möhrengrün machten wir Kränze. – Eine Schaukel gab es da, die flog bis in den Himmel. Eine richtige Laube, die wie ein kleines Haus war, und eine sogenannte Bohnenlaube; sie bestand aus im Viereck aufgestellten weißen Latten, an denen sich die Boh nen in die Höhe rankten. Abends saß dann die ganze Fami lie in der Bohnenlaube. Der Garten war für mich ein Paradies und eine Quelle neuer Entdeckungen – er schien mir so groß und reich. Heute, als ich ihn wiedersah, wunderte ich mich wie klein er war – so klein, ach, und welch einen Reichtum barg er für mich dennoch. Ich stand lange davor in Erinne rung an meine gute, gute Großmutter. Sie hat sich arg plagen müssen – ihr Leben war Mühe und Arbeit, aber immer war sie gütig und hilfsbereit. Es war alles klein geworden, auch das Gärtchen, dass meine Eltern hatten – ich stand erstaunt vor diesem winzigen Fleck Erde – in meiner Erinnerung war alles 10 mal so groß [. . .] Am Abend gingen über Felder Schafe mit dem Hirten, Die Hänge gelben Sandes sind noch, auf dem Ginster blüht zur Sommerszeit. Darüber wölbte Himmel sich wie heute blau und weit. Im Herbst, wie rollten der Kastanie braune Früchte, des Nachbarn Birnbaum rief von ferne lange schon, wir schlichen leise zu den goldenen Gaben und lachten der Gesetze Hohn. Dort nickten Blumen feurig rot; wir brachen sie und sangen, war’n in des Tages Helle Räuber wild, doch in der Abenddämm’rung sah’n wir Gottes Bild. Sahn seine Engel über Berge fliegen, den dunklen Gott im borst’gen Strauch – und sehnten uns in hellem Bett zu liegen, geborgen vor des Abends kaltem Hauch. Nun sitz’ ich auf dem Stein geruhsam, über den ich einst gesprungen, und wie ein Lied zieht jene Zeit vorbei. Es haben Feld und Hang und Birnbaum geklungen, im Dunkel nun hör ich des Uhus Schrei. Nun will ich, Wald, in deinen Armen schlafen und mit dem Mond in jene Welten zieh’n, wo Kinder sind und gelbe Schafe und gold’ne Blumen auf den Wiesen blüh’n. In ihrer Familie fiel meine Mutter wegen ihrer Andersartig keit auf: Gern wollte ich Tänzerin werden – oder Schau spielerin. Oft verkleidete ich mich, zog die schönen Kleider meiner Mutter an – trug ihre Hüte durch die kleinen Gärten in den Hof, die zu unserer Vorstadtwohnung gehörte und machte den anderen Kindern aus den Nebenhäusern etwas vor. Sie hielten mich wohl für verrückt – aber es gefiel ihnen. Gern hätten auch sie sich verkleidet. [. . .] Ich war voller Lei Meine Mutter. Selbstzeugnisse, Dokumente, persönliche Erinnerungen Peter Stilijanov
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