Leseprobe
9 chen, stellenweise wird sie mit dem Pinselstiel wieder ausgekratzt oder mit dünnflüssigem, fast zeichneri schem Farbauftrag kombiniert, etwa um einzelne Blü ten und Stengel hervorzuheben, wie in »Feldblumen« und dem »Stillleben im Atelier« (Kat. 12, 21). 9 Auf der Studie »Kinder im Atelier« (Kat. 19) ist an mehreren Stellen der unbemalte Bildträger sichtbar, die unter schiedlichen Farbtöne sind direkt neben- und überei nander aufgetragen, ohne sie zu verblenden. Die differenzierte Art des malerischen Farbauftrags und dessen kontrastreiche Bearbeitung verleihen den Bildern eine lebendige, manchmal flimmernde Ober fläche und führen zu einer großen malerischen Span nung. Oft scheinen die Hintergründe, wie im »Selbst bildnis« von 1969 (Kat. 20), zu vibrieren, während der Bildgegenstand klar, beinahe plastisch und mit großer Abb. 1 Hildegard Stilijanov · Sinnende · um 1958/60 · Öl auf Hartfaser, 70 × 48 cm · unsigniert · Nachlass der Künstlerin, Inv. P1 physischer Präsenz hervortritt. Mit diesen Gestaltungs prinzipien knüpft Stilijanovs Œuvre an die ästhetische Sprache von Künstlerinnnen und Künstlern der Klas sischen Moderne an. Zugleich reiht es sich in die Tra ditionslinie der Dresdner Malerschule ein, mit deren Protagonisten Stilijanov seit ihrer Jugend in zum Teil engem Austausch stand. Amwichtigsten für ihr Kunst verständnis und -schaffen waren sicherlich Theodor Rosenhauer und Bernhard Kretzschmar, mit dem sie seit 1958 verheiratet war, aber auch Hans Jüchser und Paul Wilhelm. 10 Stillleben – Leben im Stillen? Hildegard Stilijanov selbst umriss ihre künstlerischen Hauptinteressen 1978 in einem Zeitungsartikel unter der Überschrift »Woran arbeiten Sie?« folgender maßen: »Porträts zu malen von Menschen, die mich beeindruckten«, »in der Landschaft zu arbeiten« so wie »die Leben im Stillen – die Stilleben«. 11 Tatsächlich nehmen Stillleben den größten Anteil in ihrem Schaffen ein, gefolgt von Bildnissen, Land schaften und Interieurs. Diese Häufung der Gattung Stillleben ist in der Kunst nach 1945 ungewöhnlich. Zumal in der DDR, wo in der Formalismus-Debatte ab Ende der 1940er-Jahre und mit den kulturpolitischen Vorgaben des sogenannten Bitterfelder Weges seit Ende der 1950er-Jahre die Präferenz von Darstellun gen der neuen sozialistischen Gesellschaft mit pro duktiven Werktätigen, Industriebetrieben und von Neubauten geprägten Städten deutlich artikuliert wurde, um eine »sozialistische Nationalkultur« zu installieren. 12 Zwar bevorzugte man eine gegen ständliche Bildsprache, Stillleben aber wurden kaum in Auftrag gegeben und eher selten angekauft.
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