Leseprobe

40 Ein weiteres Beispiel für diese Art von visueller, homofoner Redewendung liegt in der Kom- bination von Kranichen und Kiefern vor, was sich auf die chinesische Redewendung song he yan nian ( 松鹤延年 ) bezieht: »Kiefer und Kranich wünschen dir ein langes Leben«. Dieses Idiom geht zurück auf literarische Quellen, denn in einer der frühesten Beschreibungen der Kiefer heißt es: »Die Kiefer lebt ein langes Leben und verdorrt nie im Winter«. 2 In der chinesischen Kultur wird sie häufig als Symbol für ein langes Leben verwendet (Abb. 4). Die glückverheißenden homofonen Motive der chinesischen Volkskunst verbildlichten vor allem allgemein verbreitete Bestrebungen der chinesischen Gesellschaft wie Wünsche nachWohl- stand, Reichtum, Adel, Langlebigkeit, Fruchtbarkeit, Glück und Erfolg. Die Künstler kombi- nierten meist mehrere gleichlautende Bilder und schufen so Bilderrätsel. Auch Analphabeten, denen die zugrunde liegenden Redewendungen aus mündlicher Überlieferung bekannt gewesen sein dürften, konnten die versteckten Bedeutungen der Bilder erkennen. Diese Bildsprache war weit verbreitet, in der Architektur ebenso wie in den angewandten Künsten, bei Steinmetzarbei- ten, Holzschnitzereien, Porzellanobjekten, Möbeln sowie bei Stickarbeiten. Pflanzensymbolik Besonders häufig wurden glückverheißende Bäume, Blumen und Früchte dargestellt. Dazu zähl- ten etwa Pfingstrosen, Orchideen, Magnolien, Chrysanthemen, Pflaumenblüten, Hibiskus, Lotus, Bambus, foushu (Zitrone »Buddhas Hand«), Osmanthus (Duftblüte), Wutong (Sonnen- schirmbaum) und Kiefern. Unabhängig von der symbolischen Aussage boten sie dekorative und ästhetisch ansprechende Bildmotive. Ein Aquarell der Dresdner Sammlung zeigt eine Vase mit Pflaumenblütenzweig und eine Obstschale aus Porzellan, gefüllt mit verschiedenen Früchten und Blüten (Abb. 3). Darunter befindet sich die Zitronatzitrone »Buddhas Hand«, foshou ( 佛手 ), die mit ihren fingerähnlichen Auswüchsen einer Hand ähnelt und als Segensgestus von Buddhas Hand gedeutet wird. Das Wort foshou ist gleichlautend zu fu shou ( 福寿 ), Glück und Langlebigkeit. Die Hibiskusblüte furong ( 芙蓉 ) ist ein Homofon zu fu rong ( 福荣 ) in der Bedeutung von »gesegnet« und »Herr- lichkeit«. Die Vielzahl der Samen zi ( 籽 ) des Granatapfels stellen eine Assoziation zu haizi ( 孩子 ), Kinder, her (siehe auch oben) und stehen daher für Fruchtbarkeit und Kinderreichtum. Viele Kinder, insbesondere Söhne zu haben, galt als großes Glück. 3 Die Kombination von Pfirsich (langes Leben), Granatapfel (Fruchtbarkeit) und »Buddhas Hand« (Glück) ist auch als »Drei Reichtümer« ( fu shou san duo 福寿三多 ) bekannt. Solche und weitere Arrangements von Früchten auf Tellern waren äußerst verbreitete Bildmotive. 4 Weitere symbolische Deutungen sind mit verschiedenen Blumen verbunden. Ein Farbholz- schnitt aus einem Dresdner Album zeigt eine Mutter mit ihrem kleinen Sohn (Abb. 5). Die Frau lehnt an einem Tisch, betrachtet einen Papagei auf seiner Papageienschaukel und scheint den Duft einer Orchideenblüte in ihrer Hand zu genießen. Die Orchidee symbolisiert den eleganten und würdevollen Charakter einer adligen Person. Auch die Gegenstände auf dem Tisch (Weinkanne, Räuchergefäß, Bonsai-Pflanze und Blu- menvase) sind symbolisch zu verstehen. Die Vase enthält Magnolien yulan ( 玉兰 ) und Chinesi- schen Zierapfel (Malus specatbilis) haitang ( 海棠 ), die eine homofone Assoziation an die Rede- wendung yu tang fu gu ( 玉堂富贵) hervorrufen. Der erste Teil des Satzes setzt sich aus zwei Zeichen zusammen: Das erste Zeichen yu ( 玉 ) aus demWort Magnolie bedeutet für sich genom- men Jade. Das zweite Zeichen tang ( 棠 ) aus dem Begriff haitang für den Zierapfel ist auch die Bezeichnung für die Haupthalle eines Herrenhauses. Der daraus gebildete Begriff yu tang ( 玉堂 ), Jadehalle, bezieht sich auf die Hanlin-Akademie, die höchste akademische und administrative Einrichtung im kaiserlichen China. 5 Der zweite Teil der Redewendung fu gu bedeutet Reichtum und Ehre. Yu tang fu gu drückt also das Streben danach aus, ein angesehener Gelehrter der Hanlin-Akademie zu werden. Dieser Wunsch bezieht sich auf den im Bild dargestellten Sohn. Er versucht zu Füßen seiner Mutter,

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1