Leseprobe

196 JANE BODDY Loyalität und Stabilität als Thema bei den Räubern vom Liangshan-Moor Über eine Länge von mehr als sechs Metern illustriert die zwischen 1630 und 1650 datierte Bil- drolle (Kat.-Nr. 2) Szenen aus dem Roman »Die Räuber vom Liangshan-Moor« ( Shuihu Zhuan 水浒传 ), einer der vier wichtigsten klassischen Romane Chinas. Er erzählt, wie 108 Menschen in die Gesetzlosigkeit getrieben werden und sich letztendlich am Liangshan-Moor in der Provinz Shandong in einer Rebellenarmee formieren. Von einem Roman zu sprechen, ist etwas irrefüh- rend. Denn es gibt mehrere Versionen der Geschichte, die als mündlich überlieferte Legende während der Song-Dynastie (960–1279) zirkulierte und schließlich im Jahr 1368 am Ende der Yuan-Dynastie (1279–1368) und zu Beginn der Ming-Dynastie (1368–1644) von Shi Naian 施 耐庵 (1296–1372) in der chinesischen Volkssprache einheitlich niedergeschrieben wurde. Auch danach entwickelte sich die Erzählung unter Mitwirkung zahlreicher Autoren weiter. Die Versi- onen unterscheiden sich stark in Länge – variierend von 70 bis 120 Kapiteln – und Inhalt. Dennoch haben alle den gleichen Kern, der davon handelt, wie die 108 Gesetzlosen sich zu einer Rebellenarmee zusammenschließen. Auf der Dresdner Bildrolle sind charakteristische Szenen aus den ersten 40 Kapiteln des Romans dargestellt. Die einzelnen Protagonisten verbindet ein geteilter Konflikt: Sie haben die Wahl zwischen der Loyalität gegenüber den Herrschenden, die das Gesetz auf ihrer Seite haben, aber ungerecht agieren, oder der Treue zu einem Moralkodex, der ihnen zwar gerecht erscheint, sie aber zu Gesetzlosen macht. Wie sich herausstellt, reagieren sie zwar auf unterschiedliche Weise auf diesen Konflikt, entscheiden sich aber alle dafür, gegen das herrschende Recht zu handeln, indem sie rauben, mutwillig töten, Rache üben und sich weigern, sich korrupten Beamten zu fügen – alles imNamen einer ihnen als wahr geltenden Gerechtigkeit. Der Auslegung, dass die Helden gerecht gegen das Gesetz auftreten und den politischen Handlungsweisen, die sich daraus ableiten lassen, wohnte offenbar enorme politische Sprengkraft inne. So wurde der Roman zu verschiedenen Zeitpunkten als Inspirationsquelle für das Recht auf Rebellion sowohl gefeiert als auch – etwa zu Zeiten der Qing-Dynastie (1644–1912) – verboten. Die Art und Weise, wie der Roman die Rebellion behandelt, ist recht komplex – mehr, als es eine erste Lektüre vielleicht vermuten lässt. Am Ende unterwerfen die Gesetzlosen sich doch dem Kaiser und werden, trotz der von ihnen ausgeübten Selbstjustiz, begnadigt. Wie wichtig Loyalität gegenüber dem Gesetzgeber war, zeigt sich an den drakonischen Strafen für jene, welche eine Rebellion planten oder versuchten. Ein Beispiel ist lingchi 凌遲 , auch bekannt als »schleichender Tod«. Dies war eine äußerst qualvolle Strafe, die nach chinesi-

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