Leseprobe
197 schem Recht jahrhundertelang praktiziert wurde. Im Gesetzkodex der Sui-Dynastie (581–618) wurden die »Fünf Strafen« eingeführt, eine Reihe von Strafprotokollen, die in vielen Variationen bis zum Ende des kaiserlichen Chinas im 20. Jahrhundert angewendet wurden. 1 Zur Zeit der Yuan-Dynastie wurde lingchi als Todesstrafe anerkannt und in den »Fünf Strafen« gesetzlich verankert. 2 Hierbei werden dem Opfer Stück für Stück Körperteile abgeschnitten. Lingchi galt als die härteste Form der Bestrafung, die das Gesetz zuließ, während Erdrosseln und Enthauptung mildere Arten der Todesstrafe darstellten. Lingchi war den schwersten Straftaten vorbehalten, darunter der Verschwörung gegen den Monarchen, dem Vatermord und der Ermordung des Ehemanns, des Arbeitgebers oder mehrerer Familienmitglieder (und damit der Gefährdung einer ganzen Blutlinie). Auch im »Räuber«-Roman wird lingchi praktiziert. Ein Bespiel findet sich in einer Episode der Geschichte von Wu Song. In Kapitel 26 tötet er seine Schwägerin Pan Jinlian, weil sie seinen Bruder betrogen und vergiftet hat. Dies ist eine Form der Illoyalität, die nicht toleriert werden kann und Wu Song in einen Blutrausch versetzt. Er bestraft Pan Jinlian auf eine grau- same Weise: Er schneidet sie auf und entnimmt Herz, Milz, Leber, Lunge und Nieren, bevor er sie enthauptet. 3 Danach tötet er auch ihren Liebhaber Ximen Qing. Diese Morde machen Wu Song zu einem Gesetzlosen. 4 Nach der Tat wird ihm allerdings von dem bestechlichen örtlichen Präfekten dabei geholfen, einer schweren Körper- und Haftstrafe zu entkommen. Großmutter Wang – die Kupplerin, die die Affäre zwischen Pan Jinlian und Ximen Qing ermöglicht und Pan Jinlian zum Giftmord aufgehetzt hat – wird jedoch von den Behörden durch lingchi bestraft. Da sie sich zwischen Ehemann und Ehefrau eingemischt und die Har- monie des Ehelebens gestört hätte, so urteilte der örtliche Präfekt im Roman, sollte sie den Tod durch Zerstückeln erleiden. 5 Für ihre Hinrichtung wurde sie mit einem Seil und mit vier Nägeln, die durch ihren Körper getrieben wurden, an ein Holzgestell gefesselt und zum Richt- platz gebracht, wo sie zu Tode geschnitten wurde. Die Hinrichtung von Großmutter Wang Abb. 1 Die Räuber vom Liangshan-Moor Südchina, Jiangsu- oder Zheijang- Provinz, um 1630/1650, späte Ming- Dynastie, Rollbild, Wasserfarben auf Seide, ca. 316×6230 mm (Bildfeld), Inv.-Nr. Ca 150 (Ausschnitt) Episoden aus den Kapiteln 24–27, darunter »Die alte Wang weckt aus Geldgier unheilvolle Leidenschaft« (oben rechts), »Der zum Zorn gereizte Yun Ge verursacht in einer Teestube großen Tumult« (Mitte oben), »Die Ehebrecherin (Pan Jinlian) vergiftet den Älteren Wu« (Mitte oben), und »Wu Song und Yun Ge im Gerichtshof« (links oben).
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