Leseprobe
228 AGNES MAT TH I AS »Transformation« von Ines Beyer Ein Kunstprojekt zur Annäherung an Band Ca 139 Landschaft, eine Analogie »Ans Fenster gelehnt – weiter Blick, Wald, Gebirge, Nebel am Wasser, kein Halt für die Augen – Ferne, unendliche Lebensenergie« 1 . Diese Zeilen stammen aus dem achten Gedicht eines 36 Poeme umfassenden Zyklus, den der chinesische Kangxi-Kaiser Anfang des 18. Jahrhunderts verfasste. Die »36 Ansichten des Kaiserlichen Sommerpalastes zu Jehol« sind Ausdruck des Stre- bens des an denWissenschaften und Künsten interessierten Kaisers, eine ästhetische und zugleich lebensphilosophische Erfahrung in Betrachtung der seine Sommerpalastbauten in Chengde (hist. Jehol) umgebenden Landschaft in Worte zu fassen. Diese sprachlichen Bilder stehen am Anfang einer Reihe verschiedener, aufeinander aufbauender Übersetzungen der Motive des Textes ins Visuelle: zunächst in Malerei durch Wang Yuanqi, dann in von Shen Yu entworfene und durch Zhu Gui und Mei Yufeng umgesetzte Holzschnitte und schließlich in eine Folge von Radierun- gen und Kupferstichen. 2 Deren Ausführung lag in den Händen von Zhang Kui und einem unbekannten chinesischen Künstler sowie maßgeblich des päpstlichen Gesandten und Missionars Matteo Ripa, der die Tiefdrucktechnik in denWerkstätten am kaiserlichen Hof eingeführt hatte. Ines Beyers Arbeit »Transformation« liegt die Reflexion dieses historischen künstlerischen Wandlungsprozesses zugrunde. Sie überführt ihn in die grundsätzliche Frage nach dem Verhält- nis von Inhalt und Form, in einemVorgehen, das nur in scheinbarer Widersprüchlichkeit sowohl rechnerische Reduktion als auch sinnliche und plastische Anreicherung bedeutet. »Transforma- tion« besteht aus einer ebenso monumentalen wie überaus zart anmutenden Kreuzstichstickerei, ausgeführt auf einer langen, mit einem Raster bedruckten Stoffbahn. Ein technisches Bild ist die Grundlage: ein Digitalisat des druckgrafischen Blattes zum oben genannten Poem. Reduziert auf 50× 45 Pixel und in sieben Graustufen und Weiß als achtem Tonwert grob zerlegt, ist die Land- schaftsdarstellung mit Bergen, Wolken und Seen kaum mehr als solche erkennbar. Jedem dieser Tonwerte wird eine Zahl von 1 (Weiß) bis 8 (dunkelster Grauton) zugeordnet. So entsteht die Matrix für die Stickerei: eine Übersetzung des gegenständlichen Bildes in eine lineare Folge von 2 250 Zahlenzeichen, die wiederum zur Grundlage eines neuen, abstrakten Bildes wird, zu einer komplexen, errechneten Komposition. Denn jeder der acht Zahlen in der Zeichenfolge wird eine »Handlungsanweisung« für die Bestickung zugeordnet. Mit ihr wird festgelegt, in welches der acht möglichen, das Ausgangsfeld umgebenden Felder das nächste Kreuz gesetzt werden soll: links, diagonal nach oben links, oben, diagonal nach oben rechts und so weiter. Entsprechend bestickt die Künstlerin dann in einem hochkonzentrierten und zeitintensiven Prozess den Stoff. Dieses Übertragungsverfahren wird mehrmals wiederholt, jeweils mit geänderten Handlungsan-
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