Leseprobe
Ursula Haller jeder einzelnen Figur hängt unmittelbar von der Beantwortung dieser Fragen ab. Ein solches Vorgehen ist gängiges restaurierungstheore- tisches Prinzip, denn Voraussetzung einer jeden Restaurierung ist die Untersuchung und Erfassung sämtlicher materieller, historischer und ästhetischer Aspekte eines Werks. Erst auf dieser Grundlage können schlüssige Behandlungskonzepte entwickelt werden und kann auch nur im Entferntesten daran gedacht werden, tatsächlich Hand anzu- legen. Ein unreflektierter Eingriff in die materielle Substanz eines Werks – das zeigt die leidvolle Erfahrung mit früher schon einmal »reparierten« Figuren – kann es nicht nur materiell beschädigen oder sogar zerstören, sondern seine immaterielle Bedeutung bis zur Un- kenntlichkeit verfälschen. Das betrifft nicht nur das Arbeitsgebiet der Konservierung, das ausschließlich Maßnahmen umfasst, die dem unmittelbaren Erhalt dienen, sondern vor allem auch die Restaurie- rung, die darüber hinaus ästhetische Verbesserungen, beispielsweise zur Wiederherstellung der Lesbarkeit eines Werks, zum Ziel hat. Dazu muss aber definiert sein, was ein Werk vermitteln soll. Steht die Über- mittlung von Geschichte im Vordergrund, wird also das Werk als his- torisches Dokument betrachtet, dessen gealterter Zustand nicht ver- ändert werden darf? Oder geht es um die Wiederherstellung einer wie auch immer gearteten ehemaligen inhaltlichen Vermittlung oder künstlerischen Intention? 3 Im besten Fall kommen beide dieser scheinbar gegensätzlichen Positionen zu ihrem Recht. Die Entwicklung von Konservierungs- und Restaurierungskonzep- ten ist insbesondere dann eine spannende Herausforderung, wenn man noch vergleichsweise wenig über die Materialien weiß, aus de- nen ein Werk besteht. Die kunsttechnologische und die konservie- rungswissenschaftliche Forschung beschäftigen sich mit den Materi- alien, aus denen Artefakte hergestellt wurden, und insbesondere auch mit deren Alterungserscheinungen. Anders jedoch als bei Materialien wie beispielsweise Holz, Metall, Papier oder verschiedenen Malfarben, die seit Jahrhunderten für die Kunstproduktion verwendet werden, steht die Forschung zur Alterung der vielfältigen Kunststoffe noch weitgehend am Anfang. Nun sieht man sich aber gerade hier seit ei- nigen Jahren verstärkt Problemen gegenüber, denn durch die oft schnell voranschreitenden chemischen Veränderungsprozesse vieler dieser Materialien treten zunehmend Schäden auf. Werkstoffe aus halb- oder vollsynthetischen Polymeren, zu denen auch Cellulosederi- vate wie Celluloseacetat (CA) und Celluloseacetatbutyrat (CAB) oder später Polymethylmethacrylat (PMMA) der transparenten Außenhaut der Gläsernen Figuren gehören, wurden eigentlich nicht mit dem Ziel produziert, Generationen zu überdauern. Vergilbungen oder Verbräu- nungen verändern die Farbe oder Transparenz des Materials, Abbau- prozesse oder der Verlust von Weichmachern führen zu mechani- schen Veränderungen wie Versprödung, Schrumpfung oder Rissbil- dung und schlimmstenfalls zu einer völligen Zersetzung. Die Entwicklung einer aktiven Konservierungsstrategie – als Summe der Maßnahmen, die dem unmittelbaren materiellen Erhalt bzw. der Vermeidung weiterer Schäden dienen – gleicht im Fall der Gläsernen Figuren der sprichwörtlichen Quadratur des Kreises: Das 106
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