Leseprobe

DER DURCHSICHTIGE MENSCH 1930 Der Gläserne Mensch wurde erstmals 1930 im Rahmen der II. Internationalen Hygiene-Aus- stellung der Öffentlichkeit präsentiert. Die Fi- gur wurde als dramaturgischer Höhepunkt der zentralen Ausstellungseinheit »Der Mensch« inszeniert, die den Besucher:innen die Anato- mie und Physiologie des Menschen anhand von interaktiven Apparaten, Präparaten und Schautafeln vermitteln sollte. Der Gläserne Mensch sollte in diesem Arrangement nichts Geringeres als das Idealbild der hygienischen Volksbelehrung darstellen: den gesunden, na- turwissenschaftlich erschlossenen und kon­ trollierbaren Körper. 9 Die Haltung der Figur erinnerte an antike Statuen und die vermutlich beim Publikum noch präsenteren Bilder der Lebensreformbewegung des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts. 10 Gleichzeitig wurde das Körpermodell über die sich an- schließenden Ausstellungssäle zu »Menschen- kunde«, »Die Frau als Gattin und Mutter« sowie »Vererbung und Eugenik« bereits bei seiner Erstpräsentation mit eugenischen bzw. rassen- hygienischen Ideen verknüpft. Insofern stellt sich die Frage, ob die Figur – in ihrer Ausge- staltung als (erb-)gesunder, weißer Mann 11 – nicht auch für die Popularisierung dieser The- men geschaffen worden war, die in den Ge- sundheitsausstellungen des DHMD immer größeren Raum einnahmen. 12 Der Gläserne Mann stand in einer auf Pa- thos und Erhabenheit setzenden Inszenie- rung auf einem ausladenden Sockel, um- rahmt von einer beleuchtbaren Apsis. Die Transparenz der Außenhülle aus dem da- mals neuen und auch als neuartig wahrge- nommenen Kunststoff Celluloseacetat (CA) wurde durch mehrere technische Kniffe un- terstrichen. Zum einen war die Figur elektri- fiziert, die einzelnen Organe konnten nach- einander aufleuchten. Zum anderen wurde eine ausgefeilte Lichtregie erdacht. In der Zeitschrift »Das Licht« erschien 1930 eine Rezension zur neuen Dauerausstellung des DHMD, in der auch die Präsentation der Figur beschrieben wurde: »Zuerst verdunkelt sich langsam die bisher helle, indirekt beleuchtete Kuppel, gegen die der durchsichtige Mensch als wirkungsvolle Silhouette abstach. Wenn sich das Auge des Beschauers an die Dun- kelheit gewöhnt hat, leuchten nun, […] in gleichmäßiger Folge, verschiedenartig ge- färbt, die einzelnen Organe […] in zwanzig verschiedenen Bildern und gleichzeitig im Sockel der Figur die jeweilige Lichttafel mit der entsprechenden Bezeichnung auf. Nachdem dadurch die Lage, die Gliederung und der Umfang der wichtigsten Organe verdeutlicht wurde, leuchtet langsam die in- direkte Kuppelbeleuchtung wieder auf, und der durchsichtige Mensch ist wieder in gan- zer Gestalt gegen den hellen Hintergrund sichtbar.« 13 Soweit bekannt, lief ab 1940 parallel zum Aufleuchten der Organe ein Hörvortrag ab, der erstmals bei der Berliner Reichsausstel- lung »Das Wunder des Lebens« 1935 zum Einsatz gekommen war. 14 › Ton und Technik – eine Mediengeschichte, S. 232 Damit gehör- te der Gläserne Mann – soweit bekannt – zu einem der ersten audiovisuell funktionieren- den musealen Objekte in Deutschland. 15 Obwohl die Figur ab 1930 als neues Attrak- tionsobjekt des Museums fungieren sollte, finden sich nur wenige historische Fotografi- en ihrer Erstpräsentation in der Sammlung des DHMD, die vielfach für Werbezwecke genutzt wurden. 16 JBR Abb. 105 › Der Gläserne Mensch im neu eröffneten Museumsgebäude, Fotografie,1930, Inv.-Nr. 2010/646 200

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