Leseprobe
JULIA BIENHOLZ-RADTKE UND MARIA LÖRZEL PRODUKTIONSGESCHICHTE DER GLÄSERNEN FIGUREN 1945–2000 Die Herstellung der Gläsernen Menschen und Tiere am Deutschen Hygiene-Museum in Dresden (DHMD) ist bereits aus verschiedenen Perspektiven umfangreich beschrieben worden. Dabei lag der Fokus zumeist auf der »Schöpfungsgeschichte« 1 des sogenannten Durchsich- tigen Menschen in den 1920er Jahren. 2 Hingegen fand die Jahrzehnte umfassende Produktion nach 1945 bislang nur vereinzelt Beachtung. 3 Im Rahmen des Forschungsprojekts »Gläserne Figuren – Ausstellungs- ikonen des 20. Jahrhunderts« wurde dieser Blick geweitet. Zu diesem Zweck wurden Interviews mit aktuellen und ehemaligenMitarbeiter:innen der Werkstatt »Gläserne Figuren« geführt, 4 eine Bestandsaufnahme der noch in der Werkstatt vorhandenen Werkstoffe und Werkzeuge ge- macht 5 und entsprechende Archivrecherchen durchgeführt. Auf dieser Grundlage kann nun erstmals die Herstellungsgeschichte bis in das Jahr 2000 – als die Produktion der Gläsernen Figuren am DHMD end- gültig eingestellt wurde – nachgezeichnet werden. Die Idee, transparente Körpermodelle für Gesundheitsausstellungen herzustellen, geht auf den Gründer des DHMD Karl August Lingner (1861–1916) zurück. Bereits vor Eröffnung der I. Internationalen Hygi- ene-Ausstellung 1911 und der Gründung des Museums 1912 verfolg- te er unter anderem in Zusammenarbeit mit der Glasbaufirma Schott die Idee, einen menschlichen Körper aus Glas nachzubauen – ein Plan, der letztlich fehlschlug. 6 Der Wunsch nach einem solchen Mo- dell blieb jedoch bestehen. 1913 reichte Lingner ein Patent »Verfahren zur künstlichen Darstellung der äußeren Gestalt und des inneren Bau- es natürlicher Objekte« 7 ein, das eine Methode zum Formen durch- sichtiger Materialien für die Herstellung eines transparenten und im Inneren beleuchteten Körpermodells detailgenau beschrieb. 8 Darin wurde auch der Kunststoff Cellulosenitrat (CN, »Zelluloid«) – neben Glas und Gelatine – als möglicher Werkstoff berücksichtigt. Mit wel- cher Begeisterung die Verantwortlichen am DHMD den neu auf dem Markt verfügbaren Thermoplasten Cellulosenitrat und Celluloseacetat (CA, »Cellon«) begegneten, macht auch ein 1919 erschienener Artikel des damaligen wissenschaftlichen Direktors des DHMD, Friedrich Woithe, deutlich. Er schrieb – vermutlich mit Blick auf Celluloseacetat und mit Erwähnung des beantragten Patents: »Man kann diesen Stoff wasserklar, mehr oder weniger undurchsichtig und in jeder erdenk EINLEITUNG FRÜHE KUNSTSTOFFE IM MUSEUM ‹ Abb. 3 Noch verbliebene Überreste der Werkstatt »Gläserne Figuren« im DHMD, 2021. Abgebildet ist die Tief ziehanlage für die Formung der Kunststoffteile. 19
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