Leseprobe
Julia Bienholz- Radtke Maria Lörzel lichen Farbe bekommen, man kann seiner Oberfläche jede ge- wünschte Beschaffenheit geben, vermag ihn mit dem Schnitzmesser zu bearbeiten, zu bohren, zu sägen, zu fräsen, man kann ihn schmel- zen, pressen, wie Glas blasen usw., kurzum mit ihm alles machen. Das Verfahren zur Herstellung durchsichtiger anatomischer Modelle, die durch Gewinnung des neuen Materials ermöglicht wurde, ist dem Museum patentiert worden.« 9 › Materialgeschichte von Celluloseace- tat, S. 81 Mitte der 1920er Jahre verfolgte schließlich der seit 1913 am DHMD beschäftigte Präparator Franz Tschackert (1887–1958) Lingners Idee weiter, ein transparentes anatomisches Menschenmodell zu fertigen. 10 In Anlehnung an bereits bestehende Ausstellungsattraktionen wie die Sondergruppe »Der durchsichtige Mensch« › Schlüsselobjekte der Gesundheitsaufklärung, S. 198 sollte ein neues, vollständig transparent erscheinendes Modell aus Celluloseacetat entstehen. 11 1925 begann Tschackert mit der Fertigung des ersten Durchsichtigen Menschen zunächst unabhängig vom Museum in der Dresdner Marmeladenfab- rik Siemank & Ringelhahn mit einfachsten Hilfsmitteln. 12 Dieser Pro- zess wurde 1973 in einem Zeitzeugenbericht von Isolde Seyfarth, der Tochter des Marmeladenfabrikanten, beschrieben. 13 Nach ihren Aus- sagen verwendete Tschackert für den Bau ein natürliches Skelett, das er aus den einzelnen Knochen selbst zusammengesetzt und auf einem Metallgestell fixiert hatte. Mit Schichten aus Stroh und Gips model- lierte er eine menschliche Gestalt. Arme und Beine formte Tschackert laut Seyfarth am Sohn des Fabrikanten ab, was die zierliche Körper- form der ersten Gläsernen Menschen erklären würde. Von diesen Mo- dellen wurden negative Formvorlagen abgenommen. Tschackert er- wärmte die Celluloseacetatplatten in heißemWasserdampf und press- te sie mit Dampfdruck in die Formvorlagen. Für die Verklebung ver- wendete er Aceton, mit dem er die Verbindungsflächen anlöste. Nach Verdampfen des Lösemittels blieb so eine feste Verbindung im Kunst- stoff zurück. Die inneren Organe wurden laut Zeitzeugenbericht nach Vorlagen aus einer Schule modelliert. 14 Erst 1927 verständigte sich Tschackert mit dem DHMD über seine Weiterbeschäftigung und verlegte die Herstellung des noch nicht fer- tiggestellten Durchsichtigen Menschen in die Werkstätten des DHMD. Bis 1946 wurden hier insgesamt elf Gläserne Menschen – acht Män- ner und drei Frauen – in Handarbeit fertiggestellt. 15 Jedes Exemplar war ein Unikat. Die Herstellungstechniken wurden stetig verändert und verfeinert. Es wurden technische Innovationen eingeführt, wie beispielsweise eine neue Aluminiumlegierung für die Fertigung des Skeletts oder ein nicht sichtbarer elektrischer Anschluss zur Beleuch- tung der inneren Organe. Herstellungsbedingt konnten sich Arm-, Kopf- oder Beinhaltung im Detail unterscheiden. Auch das individu- elle Erscheinungsbild einzelner Rippen sowie die Form der Blutgefä- ße sind individuelle Unterscheidungsmerkmale, die heute bei der Identifizierung und genaueren zeitlichen Einordnung dieser Gläsernen Menschen helfen. 16 Beim Bombenangriff auf Dresden im Februar 1945 wurde das DHMD schwer getroffen. Der mittlere Gebäudeteil, der die Ausstel- 20
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