Leseprobe
17 di San Luca in Rom aufgesucht hatte, dürfte es ihn sicherlich geärgert haben, dass man ihn als Künstler einordnete, »der Szenen von der Reise des Jakob malt«. 19 Zudem beleidigte man ihn in einer improvisierten Farce, die im Haus des Grafen Nicola Soderini zur Aufführung kam. Die Schauspieler mach- ten sich darüber lustig, dass er darauf angewiesen wäre, »mit- hilfe von spolveri [Pulver]« zu zeichnen. Hier war die Ver- wendung von Entwurfskartons gemeint, durch deren Löcher Kreidepulver geblasen wurde, um die Umrisslinien eines Bil- des zu übertragen. Im Prinzip warf man ihm also vor, ein der- maßen ungeschickter Zeichner zu sein, dass er auf das mecha- nische Kopierverfahren mit einer Schablone angewiesen war. 20 Diese Ausstellung beweist freilich das Gegenteil. Castiglione meisterte zwar die Zeichnung in Öl sowie jene mit Feder und Tusche (siehe S. 56–57), zwischen Mitte und Ende der 1630er-Jahre hatte er allerdings Schwierig- keiten bei der Bearbeitung des Ausgangsmaterials. Seiner Errettung des Pyrrhus-Knaben (um 1635–1640; Kat. 41) man- gelt es an narrativer Argumentation, die in der Version von Poussin augenscheinlich ist und auch seine Interpretation von Tizians Gemälde Himmlische und irdische Liebe (um 1635; Kat. 39) wird der bildlichen Allegorie des Originals nicht gerecht. 21 Obwohl diese Ölpinselzeichnungen es nicht schaffen, den entscheidenden emotionalen Inhalt im Kern zu vermitteln, verdienen sie dennoch Anerkennung angesichts ihrer bestechend malerischen Oberflächen. Es war Castigliones Vorhaben – das sich in den zehn Jahren von der Mitte der 1630er- bis zur Mitte der 1640er-Jahre aus- prägte –, sich auf seine unnachahmliche Malweise zu kon- zentrieren, die in dem Maße solider wurde, da er an Selbst- vertrauen gewann und die Handhabung des Pinsels in nachfolgenden Werken modifizierte. Die Herausforderung für ihn bestand darin, seine malerische Brillanz auch in Werken zu behaupten, in denen sich Malerei und Zeich- nung vermischten, zumal wenn er Motive, in einigen Fäl- len ganze Kompositionen, von anderen übernahm – von den Altarbildern eines Guido Reni oder Giovanni Lanfranco bis zu Gian Lorenzo Berninis Grabmonument (1633 –1644) für die Gräfin Mathilde (Kat. 40). 22 Darüber hinaus setzte er sich von den späten 1640er- bis zur Mitte der 1650er-Jahre das Ziel, die psychologische Nähe und technische Intensi- tät von Rembrandts Druckgrafiken zu erreichen. 23 Für Cas- tiglione bedeutete ein Nacheifern nicht unbedingt auch die Übernahme der Inhalte seiner Vorbilder. Vielmehr wollte er diesem Ausgangsmaterial einen neuen Aus- druckston – seinen Ton – verleihen. Seine Zeichnung, die den Moment darstellt, in dem Circe einen von Odysseus’ Männern in ein Tier verwandelt (Kat. 27), geht auf zwei Holzschnitte zurück, die einen Kommentar zu Ovids Metamorphosen illustrieren. 24 Ein allegorisches Bild wie dieses sollte der Warnung vor sinnlichen Versuchungen die- nen, vielleicht, weil man meinte, dass Odysseus sich durch seine rationalen und mäßigenden Kräfte, die es ihm erlaubten, sich den verführerischen Kräften Circes zu ent- ziehen, von seinen tierhaften Gefährten unterschied. Nicht weniger überzeugend als in den vorangegangenen Beispielen ist die Technik der Ölpinselzeichnung auch in dieser Arbeit eingesetzt, welche den Unterschied zwischen Skizze und voll- endetem modello verschwimmen lässt, denn sie zeigt, wie Castiglione seine Malweise ganz gezielt zur Intensivierung der Geschichte einsetzte. Ganz ähnlich basiert die Zeichnung des in einen Esel verwandelten Apuleius (um 1660; Kat. 26) auf einem Druck des Meister B mit dem Würfel; der Kupfer- stich (nach Michiel Coxie I) hatte bei der Illustration einer Ausgabe des Goldenen Esels (Abb. 4) Verwendung gefunden. Er zeigt den in einen Esel verwandelten Autor Lucius Apu- leius, wie er einer alten Frau zuhört, die einer jungen Adligen namens Charite die Geschichte von Amor und Psyche erzählt. Es gehörte jedoch zu Castigliones Arbeitsgewohnheiten, dass er vor allem seine eigenen Motive und Kompositionen gern wiederverwendete. Im Nationalmuseum in Oslo findet sich zum Beispiel ein ganzes Blatt mit Zeichnungen (Abb. 5), das vor Augen führt, wie er anhand von Miniaturskizzen mögliche Konfigurationen durchspielte. Im Anschluss an diese kleineren Kompositionen arbeitete er gewöhnlich mit Feder und Tusche auf Papier und entwickelte größere Studien, die schon die dynamische Energie seiner Ölpinselzeich- Abb. 4 Meister B mit dem Würfel, nach Michiel Coxie I Der in einen Esel verwandelte Lucius lauscht der Fabel der Psyche 1530–1560 · Kupferstich · 19,7×23,5 cm (Platte) The Metropolitan Museum of Art, New York
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1