Leseprobe
35 Der philosophische Hintergrund von Giovanni Benedetto Castigliones Kunst ist seit Langem Gegenstand wissenschaft- lichen Interesses. Versuche, die geistigen Grundlagen seiner faszinierenden Bildfindungen zu bestimmen, hat es bereits viele gegeben. Besonderer Wert wurde dabei auf die Unter- suchung des kulturellen Umfelds des Künstlers in Genua und Rom gelegt, auf die intellektuellen Interessen seiner Mäzene und Künstlerkollegen sowie auf die mutmaßlichen literarischen Vorlagen für seine ikonografischen Verweise. Während manche Untersuchungen sich der Fragestellung aus einer ganzheitlichen Perspektive nähern, konzentrieren sich andere auf bestimmte Gemälde oder kleine Werk- gruppen. In Castigliones Œuvre begegnen uns wiederholt bestimmte Inhalte, die er in verschiedenen Medien be- handelte, meist mit unterschiedlichen Ergebnissen, was die bildliche Darstellung und den thematischen Fokus be- trifft. Zur Illustration dieses Aspekts seiner Praxis eignen sich seine neuartigen Behandlungen von Temporalis Aeternitas (Kat. 66), Diogenes sucht einen tugendhaften Menschen (Kat. 65) und Circe und die in Tiere verwandelten Gefährten des Odysseus (Kat. 68), die allesamt die Themen menschliche Natur, Zeit und Vanitas in den Blick nehmen. Zwar muss das Ausmaß von Castigliones philosophi schem Wissen zwangsläufig dahingestellt bleiben, eine wichtige Quelle für das Studium seiner Kunst liegt aber in der Form einer Archivalie vor: das Inventar der Bibliothek seines ersten Meisters, dem aus einer Patrizierfamilie stam- menden Künstler Giovanni Battista Paggi. 1 Als Castiglione von ungefähr 1625 bis 1627 bei Paggi lernte, dürfte er neben den im Atelier aufbewahrten Kunstobjekten und Drucken auch Zugang zur Büchersammlung seines Lehrers gehabt haben. Die umfangreiche Bibliothek von Paggi, die 200 Bücher zählte, enthielt vor allem einschlägige Texte, die für Künstler zu Beginn des 16. Jahrhunderts von Bedeutung waren: Anleitungen zur Ikonografie, Bände über die Geschichte des Altertums sowie illustrierte Emblembücher wie Cesare Ripas Iconologia (Padua, 1603) oder Vincenzo Car- taris Imagini de gli dei (Venedig, 1556). Außerdem hatte Paggi ein Konvolut aus 17 Titeln zu Wissensgebieten zusammengestellt, die nicht im direkten Zusammenhang mit den bildenden Künsten stehen, sondern etwa mit Naturphilosophie, Alchemie, Magie oder Hermetik. Hierzu zählten nicht näher beschriebene Ausgaben etwa von Gio- vanni Battista Della Portas Magia Naturalis , vermutlich die in Neapel veröffentlichte Vulgata-Übersetzung von 1611 , Giovanni Battista Nazaris Della Tramutatione Metallica Sogni Tre (Brescia, 1572) oder auch das griechische, für die Herme- tik grundlegende Werk Corpus Hermeticum, ins Lateinische übersetzt von dem Renaissancegelehrten Marsilio Ficino, das erstmals 1471 in Treviso im Druck erschienen war. 2 Sol- che Lektüren dienten Paggi zur intellektuellen Erbauung, ohne seine Kunst inhaltlich erkennbar geprägt zu haben. Den jungen und ambitionierten Castiglione hingegen mögen diese Werke zu einer lebenslangen persönlichen Suche angeregt haben. Paggis Einfluss auf den Genueser Kunstdiskurs ist seit Langem anerkannt. Der Inhalt seiner Bibliothek hingegen ist erst vor Kurzemwieder Gegenstand erneuten wissenschaftlichen Interesses geworden, will man Natur, Antike und Philosophie in Castigliones Kunst Anita V. Sganzerla
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