Leseprobe
38 moralische Lektionen nutzte Castiglione die anspielungs- reiche, mehrdeutige Eigenschaft von Circes Zauberkraft, um Fragen der Moral, der Ethik und der menschlichen Natur auszuhandeln. 4 Wie wir sehen werden, beschäftigte Castiglione die conditio humana samt ihrer inhärenten Konflikte ein Leben lang, wie auch die Meditation über das Vergehen der Zeit und den Platz des Menschen in der Geschichte. Lektionen der Antike Die Wende zum 17. Jahrhundert war eine besonders wichtige Zeit für die Neubewertung des historischen und moralischen Erbes der klassischen Antike. Für die Entwicklung dieses Dis- kurses gab es wohl kaum einen besseren Ort als Rom, die Hei- lige Stadt, die buchstäblich auf den Überresten ihrer Ver- gangenheit erbaut worden war. Während seiner frühen römi- schen Jahre (um 1632–1637) kam Castiglione mit Künstlern, Literaten und Sammlern in Kontakt, die an der Gestaltung eines neuen künstlerischen und kulturellen Umfelds mit- wirkten. Für seinen ersten Auftritt in Rom konnte er auf Kon- takte zu Genueser Künstlern und Mäzenen bauen wie auch zu profilierten Intellektuellen mit Verbindungen zu seiner Heimatstadt. Zu ihnen gehörte unter anderem der aus Sar- zana stammende Schriftsteller und Intellektuelle Agostino Mascardi, der am Hof der Barberini aktiv war und den Band Dell’Arte Historica (Rom, 1636) verfasst hatte. 5 Erstmals von Francis Haskell aufgezeigt, haben jüngere Studien nicht nur Castigliones Netzwerk im Rom der Barbe- rini, sondern auch seine Verbindung zum kultivierten Kreis um den Gelehrten und Mäzen Cassiano dal Pozzo und des- sen Freund und Protegé Nicolas Poussin nachgezeichnet. 6 Durch die großangelegte Auftragsvergabe von Antiken- zeichnungen für sein Museo Cartaceo trug Cassiano be- deutend zur Aufzeichnung von Roms antiker Geschichte anhand ihrer Monumente bei. Zudem war er unmittelbar an der posthumen Publikation von Antonio Bosios Roma Sotterranea (Rom, 1634) beteiligt. 7 Diese Untersuchung zu den damals gerade wiederentdeckten Katakomben, von denen man glaubte, sie seien der Schauplatz des liturgi- schen Lebens und Martyriums der frühen Christen gewesen, verfolgte das Ziel, das frühchristliche Gedächtnis anhand von Relikten, Artefakten, Inschriften und Epitaphen wieder- zuerlangen. Das Material aus Roma Sotterranea wurde bereits als wahrscheinliche Quelle für Castigliones Radierung Die Auf- findung der Leichname der Heiligen Petrus und Paulus (Kat. 70) identifiziert, doch scheint es, als hätte sich der Genueser Künstler von dieser Schrift – ebenso wie von den altertums- kundlichen und gelehrten Interessen des erwähnten Zirkels – in einem umfassenderen Sinne inspirieren lassen. Ein frü- hes Beispiel bietet die Radierung Temporalis Aeternitas (Kat. 66). 8 Die enigmatische Allegorie zieht ihre erste In- spiration aus Poussins Arkadische Hirten , auch bekannt als Et in Arcadia Ego, wovon zwei Versionen überliefert sind, die sich heute in Chatsworth House (Abb. 2) beziehungsweise im Musée du Louvre befinden. 9 Um den Eindruck des Ge heimnisvollen zu vermitteln, experimentierte Castiglione – angeregt durch Rembrandts Nachtszenen – mit seinem stimmungsvollen Helldunkel, sodass Poussins elegische Darstellung des menschlichen Schicksals zu einer rätsel- haften Offenbarung wird. Die Radierung gibt den Blick auf eine fackelbeleuchtete antike Grabstätte mit fünf Figuren frei, die auf einem Grabstein eine Inschrift entdecken: »TEMPORALIS AETERNITAS 1645«. Das zentrale Thema der unaufhaltsam fortschreitenden Zeit, angezeigt durch den zerfallenden Stein an den Gräbern sowie durch die Denk- mäler und die Grabinschrift, wird hier verbunden mit einem Nachsinnen über den Wert des Erinnerns und der Bewahrung der Vergangenheit. 10 Die zwei wichtigsten, auf dem Boden sitzenden Figuren sind ganz darauf konzen triert, den Inhalt der Inschrift vorzulesen und aufzu- Abb. 3 Giovanni Benedetto Castiglione Arkadische Hirten um 1655 · Öl auf Leinwand · 110,5× 109,5 cm The J. Paul Getty Museum
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