Leseprobe
Durch eine allgemeine Beschränkung seiner Palette auf ein enges Spektrum von Erdpigmenten konnte sich Castiglione auf tonale Effekte konzentrieren, ohne auf die Farbgebung Rücksicht nehmen zu müssen, wobei seine Werke aber nie monochrom wirken. Wie man an einigen der ausgestellten Zeich- nungen beobachten kann, hatte er außerdem entdeckt, dass durch geschickt platzierte Farbspuren aus einer guten Zeichnung eine großartige werden konnte. Durch die farbigen Ergänzungen gewannen seine Ölpinselzeichnun- gen an Komplexität. Castigliones Zeichnungen sind deshalb so besonders, weil sie – unabhängig von ihrer bewusst unfertigen Erscheinung (sogenanntes non-finito ) – als abgeschlossene Kunstwerke konzipiert wurden. Manche mögen zum Verkauf gedacht gewesen sein, andere für den persönlichen Gebrauch im Atelier, etwa als Vorlagen für sein anwachsendes Themenrepertoire oder zum Unter- richten seiner Assistenten. Die Tatsache, dass seine Zeichnungen so zahlreich überliefert sind, zeigt, dass er (und andere) sie schätzten. Die Seltenheit von Vorzeichnungen für nachgewiesene Gemälde – derzeit sind acht signierte und datierte Gemälde bekannt – macht es allerdings schwierig, die Ent- wicklung seiner Arbeiten auf Papier präzise nachzuzeichnen. Die Bemühung, Castigliones stilistische Entwicklung über seine berufliche Laufbahn hinweg nachvollziehen zu wollen, fällt besonders schwer, weil mehrere Faktoren gleichzeitig zum Tragen kommen: sein ihm eigentümliches Schwanken zwi- schen persönlichen Neigungen oder Ideen und einer sachlicheren Orientie- rung an der Natur, die Bandbreite seiner Reaktionen auf die von ihm rezipier- ten Künstler sowie der stilistische Wandel, der aus den Veränderungen seiner Technik resultierte. Daher erschließt sich die Chronologie von Castigliones Zeichnungen am besten, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die einzelnen Blätter die Entwicklung seiner Bemühungen widerspiegeln, mit Ölfarbe und Borstenpinsel direkt auf Papier zu malen. Die Herausforderung bestand für ihn darin, gut unterscheidbare individuelle Figuren zu schaffen, Handlungen scharf zu umreißen und Gefühlszustände glaubhaft darzustellen, ohne seine zeichnerischen Fähigkeiten überzustrapazieren. Er wollte zeichnend einen eleganten Malstil (oder umgekehrt, malend einen eleganten Zeichenstil) pfle- gen, ohne emotionale und formale Inhalte aufzugeben. Eine Chronologie von Castigliones Ölpinselzeichnungen deutet sich zudem hinsichtlich seines jeweiligen Erfolgs bei gestalterischen Herausforderungen an – ob ihm etwa eine Balance von trockenen und wässrigen Konturen gelang, ob er es schaffte, ein Gefühl von Volumen und räumlicher Ausdehnung zwischen den Figuren herzustellen und ob er einzelne Figuren und Motive in mehrfigurigen Kom- positionen überzeugend zu arrangieren vermochte. Timothy J. Standring
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