Leseprobe
13 Giovanni Benedetto Castiglione, genannt Il Grechetto, war ein redegewandter und charmanter Bonvivant, der ver- schwenderisch lebte und das süße Leben genauso schätzte wie seine prunkhafte Garderobe, gleichzeitig aber auch zu Stimmungsschwankungen und Gewaltausbrüchen neigte, was Nicolo Pio zu der Aussage veranlasste, dass man ihn nicht so sehr verehrte als vielmehr fürchtete. 1 In einemWut- anfall zerstörte er einmal ein Auftragsgemälde und rief lautstark aus, Giovanni Battista Lomellini, der Doge von Genua, solle nie wieder Gelegenheit haben, ein Bild von ihm zu erwerben. Kurz darauf machte er sich, im »armeni- schen Stil« mit einem langen Chiton bekleidet, auf den Weg nach Rom, wo er vorgab, aus Griechenland zu stammen. 2 Er hatte einigen Grund, stolz zu sein. Schließlich waren seine Werke nicht nur in Genua, sondern auch bei Kunden aus anderen Regionen gesucht, so zum Beispiel bei Carlo II. Gonzaga, dem Herzog von Mantua und Montferrat, der ihn nach Mantua zu locken suchte. So überrascht es nicht, dass sein Ruhm sich zu Lebzeiten auch nördlich der Alpen und überall in Europa ausbreitete. Cornelis de Bie lobte ihn neben 23 anderen italienischen Malern in seinem Kompendium Het Gulden Cabinet, das 1662 in Antwerpen erschien. 3 Abbé Michel de Marolles half dabei, Castigliones posthumen Ruhm als Grafiker zu begründen, indem er 47 Radierungen des Künstlers in seinen 1666 veröffentlichten Catalogue de Livres d’Estampes et des Figures en Taille douce aufnahm. 4 Castig- lione wurde von Zeitgenossen zwar in erheblichem Umfang nachgeahmt und kopiert, doch sein bedeutendster künst- lerischer Einfluss nördlich der Alpen zeigte sich erst später, namentlich bei französischen Künstlern wie François Bou- cher und Jean-Honoré Fragonard. 5 Zudem dürften viele unter den frühen Sammlern seiner Zeichnungen durch seine ers- ten Biografen auf ihn aufmerksam geworden sein, wenn- gleich deren Erzählungen kaum mehr bereitstellten als eine flüchtige Liste der bekanntesten Werke, die damals zu sehen waren. Bis auf eine oder zwei Ausnahmen behandeln diese Biografien das vorgestellte Wissen weitgehend unkritisch. Auch lassen sie sich kaum auf Details aus dem Leben des Künstlers ein oder betrachten genauer, wie sich die Ereig- nisse seines Lebens auf seine Kunst ausgewirkt haben könn- ten. Während so gut wie alle Biografen auf die Hauptmerk- male von Castigliones Kunst – die dynamische Ausführung und das brillante, lebhafte Kolorit – zu sprechen kommen, thematisiert Nicolo Pio als einziger, was für ein reizbarer, ja zuweilen boshafter Mensch der Künstler war. 6 Castiglione begann seine Laufbahn als Maler von Tieren und von Reiseszenen mit alttestamentlichen Patriarchen, doch als er in den frühen 1630er-Jahren nach Rom ging, erweiterte er sein Repertoire um Szenen mit mythologischem Inhalt. In seinem Bemühen, sich in den späten 1640er- und frühen 1650er-Jahren als Malerphilosoph neu zu profilieren, schuf er Radierungen mit gelehrten Anspielungen, die dem Geschmack der europäischen Humanisten entsprachen. 7 Der Vermarktungsstrategie von Salvator Rosa folgend, begrüßte er es, dass seine Radierungen in Umlauf gebracht wurden, weil sie potenzielle Kunden auf ihn aufmerksammachten. 8 Dies mag unter anderem bei Werken wie Circe und die in Tiere verwandelten Gefährten des Odysseus (Kat. 68) und Anmerkungen zu einem verloren geglaubten Genie: Giovanni Benedetto Castiglione Timothy J. Standring
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