Leseprobe
8 Trotz der geringen Entfernung zwischen Annaberg-Buchholz und Altenburg fand die erste Begegnung von Carlfriedrich Claus und Gerhard Altenbourg nicht bei einem Besuch ihrer jeweiligen Wohnorte statt. Nachdem die beiden Künstler bereits seit Sep- tember 1960 in brieflichem Austausch standen, sahen sie sich zum ersten Mal persönlich bei einer Ausstellungseröffnung von Bernard Schultze in der Galerie Schüler in Berlin (West) im Januar 1961.Bis zum Bau der Mauer einige Monate später diente diese westdeutsche Insel inmitten der DDR als wichtiger Ort sowohl zur Vernetzung mit Protagonist:innen der Westberliner Kunstszene als auch als Inspirationsquelle für Claus und Alten- bourg, die dort wichtige Anregungen für ihre eigenen künstle rischen Prozesse erhielten.Beide Künstler legten hier die ersten Grundsteine für ihre Karrieren. Altenbourg fand in Rudolf Sprin- ger bereits 1949 einen Galeristen, der seine Werke in regelmä- ßigen Abständen in Ausstellungen präsentierte.1 Claus knüpfte und pflegte wichtige Freundschaften, unter anderem zu dem Kunsthistoriker und -kritiker Will Grohmann und seiner Assisten- tin Annemarie Zilz, die ihn förderten und wichtige Kontakte ver- mittelten. Die Szene in Berlin (West) bot beiden Künstlern eine Sichtbarkeit, die sie aufgrund der reglementierenden Kulturpo litik in der DDR nicht erhalten konnten. Sowohl Altenbourgs als auch Claus’ künstlerische Arbeit entsprach nicht der Doktrin des Sozialistischen Realismus. Sie wollten ihre ganz eigenen Aus- drucksweisen finden und waren damit den westeuropäischen Kunsttendenzen näher als denen ihres Landes. Ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reiste der erst 16-jährige Carlfriedrich Claus in das zu großen Teilen zer- störte Berlin. Hier besuchte er die Galerie Gerd Rosen und sah die Ausstellung des Stuttgarter Künstlers Willi Baumeister.Nach- haltig beeindruckt, erwarb der junge Claus im Nachgang seines Besuchs die Mappe Salome und der Prophet .2 Es war die erste Ausstellung der Galerie Rosen, die Werke eines Künstlers zeigte, der seinen Wohnsitz nicht in Berlin hatte. Durch die Teilung Deutschlands in verschiedene Besatzungszonen waren Reisen und Transporte innerhalb des Landes in den ersten Nachkriegs- jahren mit großen logistischen Schwierigkeiten verbunden.3 Die Galerie Rosen zeigte mit Baumeister einen Künstler, der eine wichtige Stellung innerhalb des Kunstgeschehens nach 1945 ein- nahm. Im Gegensatz zu vielen anderen Avantgardekünstler:innen, deren Kunst wie die Baumeisters während der Zeit des National- sozialismus als »entartet« diffamiert wurde und die aus diesem Grund Deutschland verlassen hatten, war er im Land geblieben, hatte außerhalb der Kunstöffentlichkeit beharrlich weitergearbei- tet und diente der jungen Generation nun als Vorbild.4 Mit der Baumeister-Präsentation zeigte die Galerie Rosen erneut, dass sie keine Mühen scheute, um wichtige zeitgenös- sische künstlerische Positionen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, denn das war die oberste Prämisse seit ihrer Gründung als erste Galerie in Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bereits drei Monate, nachdem die sow- jetische Armee in Berlin eingezogen war, eröffnete die Galerie Anfang August 1945 ihre erste Ausstellung am Kurfürstendamm. Insel der Inspiration Die Netzwerke von Carlfriedrich Claus und Gerhard Altenbourg in Berlin (West) Marie Winter
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