Leseprobe
10 einer Rigorosität wie in keiner Zeit vorher und stellt sie dem Ideal gegenüber. Diese Kunst ist Anruf und Aufruf zwischen den Rui- nen einer dahingegangenen Welt und gottbezogener Vernunft. Eine Kunst über dem Realen.«9 Erkennbar werden hier zum einen die klare Abkehr von einem im Nationalsozialismus propagierten Realismus und zum anderen der Wunsch nach einer Neuent- wicklung der Welt, einem Ausloten der Möglichkeiten, die nach den materiellen und geistigen Zerstörungen des nationalsozia- listischen Regimes folgen könnten. Die Galerie Rosen nahm in den ersten Nachkriegsjahren ebenfalls eine wichtige Stellung als Diskussionsplattform über zeitgenössische Kunst ein. Die zahlreichen Vorträge und Feiern in den Räumen der Galerie erfreuten sich unglaublicher Beliebtheit. Sie waren Rückzugs- und Bildungsort gleichzeitig und offerierten der Berliner Bevöl- kerung geistige Nahrung innerhalb des grauen Nachkriegsall- tags.10 Neben den öffentlichen Veranstaltungen boten die zahl- reichen Publikationen der Galerie zudem Interessent:innen, die außerhalb Berlins wohnten, die Möglichkeit, sich über die aktu- ellen Entwicklungen der Berliner Kunstszene zu informieren.Die kleinen Kataloge,die monografischen Broschüren zu den Künst- ler:innen und Ausstellungen waren Vermittlungsinstrumente,die auch Carlfriedrich Claus wahrnahm. Nachdem er mit der Galerie Rosen Kontakt zum Kauf der Baumeister-Mappe aufgenommen hatte, schickte diese dem jungen Claus in regelmäßigen Abstän- den aktuelle Hefte und Faltblätter zu.Diese Sammlung an Druck- erzeugnissen inszenierte Claus sogar für ein Foto, auf dem neben den zahlreichen Heften nur seine eigenen Füße zu sehen sind. Claus entwickelte, möglicherweise auch angeregt durch die Berliner Künstler:innen, früh ein Interesse für den Surrealis- mus. Ein selbst ausgelöstes Porträtfoto aus dem Jahr 1953 zeigt Claus im Anzug und in diffuses Licht getaucht, die Hände vor dem Gesicht erhoben. Auf der Rückseite des Fotos betitelte er sich selbst als Surrealist. Die nur kurze Blütezeit der Galerie Rosen endete bereits im Jahr 1948. Im Zuge der Währungsreform, durch die sich die Geschäfte wieder füllten und materielle Güter im Gegensatz zur geistigen Nahrung in den Vordergrund rückten, geriet die Galerie Rosen in große finanzielle Schwierigkeiten.11 Viele der Künstler:innen verließen daraufhin die Galerie. Gleichzeitig wurde der damalige Galerieleiter Rudolf Springer von Gerd Rosen entlassen, da er den Weggang nicht verhindert hatte.Die Künstler:innen stellten daraufhin zunächst in der Galerie Franz aus und folgten kurz darauf Rudolf Springer in seine eigene, neu eröffnete Galerie.12 Im Jahr 1949 fuhr Gerhard Altenbourg gemeinsam mit Erich Dietz nach Berlin (West), um Rudolf Springer seine Arbei- ten zu zeigen. Springer, der auf der Suche nach jungen, unent- deckten Künstler:innen war, um sein Programm zu erweitern, nahm Altenbourg in seinen Kreis auf.13 Seine künstlerischen Intentionen passten zu den Fantasten,die nun bei Springer aus- stellten.Wie sie suchte auch Altenbourg, traumatisiert vom Krieg, nach einer anderen Darstellungsweise der Wirklichkeit. Seine traumhaften Zeichnungen von Figuren und Landschaften ord- nete auch der Kunsthistoriker Will Grohmann in seinem Über- blickswerk Kunst unserer Zeit dem Surrealismus zu.Er beschrieb ihn als Sonderling,dessen Werke »einen Weg zwischen Gestern und Morgen« suchten.14 Nach und nach ließ Altenbourg seine Zeichnungen und Lithografien der Galerie Springer zukommen. Da ihm der Postweg zu unsicher und häufige Reisen zu kost- spielig waren, übernahmen oftmals befreundete Künstler den Transport seiner Arbeiten.So kamen bis 1954 mehr als 60 Werke zu Rudolf Springer nach Berlin (West); 1956 konnte dort seine erste Einzelausstellung gezeigt werden.15 Nach der Teilnahme an der documenta II 1959 in Kassel war die Einladung der West- berliner Akademie der Künste, im Februar 1961 im neu erbauten Hansaviertel für einige Wochen ein Atelier zu beziehen, ein wei- terer wichtiger Schritt für Altenbourg.16 Im Westen Deutschlands konnte Altenbourg auf mehr Akzeptanz und Ausstellungsmöglichkeiten als in der DDR hoffen. Vor allem die ab 1948 geführte Formalismus-Realismus-Debatte führte im sowjetisch besetzten Teil Deutschlands und der spä- teren DDR zu einer vollständigen Ablehnung abstrakter und rea- litätsferner Kunst. Stattdessen wurde der Sozialistische Realis- mus als einzig akzeptable Kunstrichtung propagiert.17 Damit fiel Altenbourgs künstlerische Arbeit durch das Raster staatlicher Vorgaben,wodurch er gezwungen war, in Westdeutschland nach Anerkennung zu suchen.Neben den Ausstellungsmöglichkeiten war Berlin (West) ebenso ein Ort des Austauschs mit anderen Künstler:innen und lieferte wichtige Anregungen über das ak tuelle Kunstgeschehen – sowohl durch den Besuch von Aus- stellungen als auch den Kauf von Publikationen, die man in der DDR nicht bekam.18 Doch bereits Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre verlor Berlin als Kunststadt zunehmend an Bedeutung. Die poli- tische Lage sowie die Abgeschiedenheit vomRest Westdeutsch- lands führten dazu,dass sich Städte wie Köln,München,Düssel- Carlfriedrich Claus, Selbstporträt »als Surrealist« vor einer Grafik von Willi Baumeister, 1953
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