Leseprobe

12 Das Pippi-Langstrumpf-Prinzip: sich weder einschüchtern noch beschämen lassen Der ›Fall‹ Hilma af Klint ist noch in anderer Hinsicht aufschlussreich. Es geht konkret um die Einschreibung der Künstlerin in den Kanon der gegenstandslosen Kunst, die exemplarisch für die Frage nach der Einordnung der künstlerischen Leistungen von Frauen steht. Reicht ein Hinzufügen in diese von männlichen Netzwerken dominierten Wertungskriterien? Oder muss eine Umwer- tung bzw. unter diesen veränderten Vorzeichen eine Neuschreibung vollzogen werden, um den lange aus dem akademischen Ausbildungssystem ausgeschlossenen, als mögliche Konkurrentinnen kleingehaltenen und bis auf wenige Ausnahmen marginalisierten Künstlerinnen gerecht zu werden?4 Die im Folgenden erzählten Lebens- und Schaffens- geschichten von Hilma af Klint, Hanna Nagel, Priska von Martin und Melitta Schnarrenberger sind Ergebnisse kunsthistorischer Recherchen und sowohl Ausdruck musealer Arbeitsweise als auch ein Desiderat heutiger Forschung. Die Künstlerinnen sind exemplarisch aus­ gewählt, weil sie – wenngleich großteils eine Generation jünger – Zeitgenossinnen von Pablo Picasso, Fernand Léger, Oskar Kokoschka und Ernst Ludwig Kirchner waren, deren Leben wiederum bereits sehr detailliert aufgearbeitet sind. Interessanterweise haben die Künstle- rinnen in vielen Fällen auf eine Art Zeitkapsel gesetzt, in der ihr (von den Zeitgenoss_innen nicht geschätztes, verstandenes oder wahrgenommenes) Werk mit zeitlicher Verzögerung in mögliche Zukünfte katapultiert wird und hier eine Wirkkraft entfalten kann. Af Klint selbst hat testamentarisch festgelegt, dass ihre großformatigen abstrakten Gemälde erst 20 Jahre nach ihrem Ableben der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden sollten. Sie hat befunden, dass die Zeit noch nicht reif war für ihre farbintensiven, überlebens­ großen Bilder, die bei den wenigen Ausstellungen zu ihren Lebzeiten auf vehemente Ablehnung gestoßen sind. Sie vertraute auf die Zukunft. Glücklicherweise konnte der Neffe, dem sie ihr Erbe anvertraute, diese Auflagen erfüllen und die Bilder wie in einer Zeitkapsel zum vorge- sehenen Datum der Welt zur Verfügung stellen. Anfangs stieß er auf Unverständnis bei den Verantwortlichen in den Museen, die sich mit Hinweis auf nicht erfolgte Rezeption schwertaten und die Kunstwürdigkeit infrage 2 Wassiliy Kandinsky Komposition VI , 1913, Eremitage, St. Petersburg, Inv. ГЭ -9662 Composition VI , 1913, The State Hermitage Museum, St. Petersburg, Inv. ГЭ -9662

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