Leseprobe
13 Parasitäre Dynamiken Seit dieser Äußerung sind 35 Jahre vergangen. Die Neu- bzw. Wiederentdeckung von Künstlerinnen hat sich nicht aufhalten lassen, denn die zugrunde liegenden sozialen, gesellschaftlichen und kunstimmanenten Operations- und Wertesysteme, wer gesammelt, (gezielt) gefördert und ausgestellt oder wer (kalkuliert) übergangen und übersehen wurde, werden beleuchtet und einer kritischen Prüfung unterzogen. Auffallend ist, dass es eben oft Künstlerinnen waren, die, »obwohl sie in den gleichen Kreisen verkehrten, bei den gleichen Professoren studier- ten und teils hochqualitative Werke schufen, eben nicht zum ersten Rang gezählt wurden und deshalb nicht die Möglichkeit erhielten, ihr Werk weiter zu entfalten.«7 Hanna Nagel (1907–1975) ist eine dieser Künstlerinnen, die wieder ins Blickfeld kommen. Sie thematisierte in ihren Arbeiten die Rollenerwartungen an Frauen und Männer, an Paare bzw. Familien als (ideologisch aufge ladener) Nukleus und Norm einer funktionierenden Gesellschaft sowie die ungleichen Chancen von Frauen, die Ansprüche von Ehe und Familie mit der Wahrneh- mung und Anerkennung als Künstlerin zu vereinen.8 Sinnbild solch parasitärer Dynamiken ist in Schmarotzer ( ABB. 3 ) die Kleinfamilie: Hanna Nagel zeichnend, mit einer Hand das Herzblut ihres Mannes Hans Fischer- Schuppach (1906–1987) auffangend sowie das damals noch ungeborene, aber trotz befürchteter Verschärfung der Benachteiligung als abhängige Ehefrau sehnlichst gewünschte Kind; im Hintergrund verblasst eine ihrer Skizzen von dem Ehepaar Karl Hubbuch (1891–1979) und Hilde Isai (1905–1971). In der Familienstruktur, in der sich die Frau als Künstlerin, Ehefrau und Mutter versteht, gibt es nicht den einen Organismus, von dem alle anderen schmarotzen. Sie sind alle eigenständige, doch voneinan- der abhängige Entitäten, und als Schmarotzer/Wirtsorga- nismus kommen sie sowohl auf ihre Kosten als auch zu kurz. Ist es einer heutigen, emanzipierten Sichtweise geschuldet, die Zeichnung dahingehend zu interpretieren, dass Nagel die Auswirkungen dieser Ansprüche eines für sie erfüllten Lebens auf die körperlichen, emotionalen und geistigen Zustände aller Familienmitglieder festhielt? Und zwar so, dass sie durchaus die Ambivalenzen von Ausbeutender/Ausgebeuteter anerkennt und keine ein- deutigen Opferrollen zuweist? Caroline Hess hat in ihrer umfangreichen Disserta- tion die Forschungslücke zur politischen Künstlerin Hanna Nagel als feministische Pionierin in Sachen Gleichberech- tigung und Antidiskriminierung geschlossen. Sie betrach- tet Nagel dabei auch im Hinblick auf ihre Kritik an der institutionellen Diskriminierung von Menschen jüdischen Glaubens und Minderheiten, an prekären Arbeitsverhält- nissen, an den ungleichen Maßstäben, die an männliche und weibliche Studierende gelegt werden, sowie an den Auswirkungen der Machtverhältnisse zwischen ausschließ- lich männlichen Lehrenden und deren Studentinnen.9 3 Hanna Nagel Schmarotzer , 1930, Privatsammlung Parasite , 1930, Private Collection stellten. Sicherlich spielte dabei auch eine Rolle, dass die Werke, in einer Stiftung verwahrt, nie Eingang in den Kunsthandel gefunden haben bzw. finden werden (dort hätten sie mit großer Sicherheit Spitzenpreise erzielen können), sodass es demzufolge keine Markt rezeption gibt. Heute wissen wir, dass af Klint 1906 das erste gegenstandslose Gemälde schuf ( ABB. 1 ), viele Jahre vor Wassily Kandinsky (1866–1944; ABB. 2 ).5 Als beide 1986 gemeinsam ausgestellt wurden, schrieb der amerikanische Kunstkritiker Hilton Kramer: »Af Klints Gemälde[n] […] einen Ehrenplatz neben den Werken von Kandinsky, Mondrian, Malewitch und Kupka zu geben[,] ist absurd. Af Klint ist einfach keine Künstlerin dieser Klasse und – darf man es sagen? – würde nie diese inflationäre Aufmerksamkeit erhalten, wenn sie keine Frau gewesen wäre.«6
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