Leseprobe

51 Von den geistigen und physischen Bewegungen, die das Medium der Malerei ausmachen, erzählen die folgenden Kunstwerke. Malerei ist – wie jede andere Kunstform – das Ergebnis von Verdichtung. Sie ist Imagination, die weder linear (nacheinander) in der Zeit stattfindet noch von einem Punkt (gleichzeitig) mit einem Blick erfassbar ist. Das mache sie zu mehr als einer statischen Moment- aufnahme – behauptete zumindest Ernst Ludwig Kirchner, als er die (offensichtliche und vielfach hinterfragte) Limi- tierung auf den zweidimensionalen Bildraum themati- sierte und seinen künstlerischen Malprozess wie folgt beschrieb: »Es gilt als Bild, was man von einem Punkt mit einem Blick übersehen kann. Das ist eine große Be­ schränkung. Ich mache es so: Ich bewege mich und sammle die aufeinanderfolgenden Bilder in mir zu einem Innenbild. Dieses male ich.«1 Man darf sich also Kirchner als einen Bildersamm- ler vorstellen, der seine Sujets umrundete, sich in ihnen physisch bewegte und diese vielfachen Perspektiven in einem geistigen Gestaltungsakt zusammendachte. »[A]lle Seh- und Empfindungserfahrungen der Menschen [kom- men] sehr viel mehr aus diesem Zustand der Bewegung«,2 war seine Beobachtung. Die Nackten Frauen auf Wald- wiese geben einen Eindruck von diesem multiperspekti­ vischen, die Bewegung einfangenden Prozess. Das an­ gewinkelte Bein, die Brüste und das Gesicht der rechten Figur beispielsweise sind eine (an den Kubismus erin- nernde) Verschmelzung aus Frontal- und Seitenansicht, wobei auch der Standort des Malers (Draufsicht, Unter- sicht) wechselt. Die Frage nach der Natur und ihrer Beschaffenheit als dynamisches Beziehungsgeflecht, in das Menschen und Dinge eingeschlossen sind, kommt hier zum Tragen. Wenn Kirchner ein Bildersammler ist, der seine Sujets umrundet, so begibt sich Maria Lassnig direkt in ihr Sujet hinein. Es geht in ihrer Kunst um Wahrneh­ mungen und Empfindungen. Reale Körpererfahrungen der Künstlerin selbst, wie ein Druckgefühl beim Sitzen oder Liegen, sind Ausgangspunkte ihrer Malerei. Wie können solche eigentlich nicht abbildbaren Empfindun- gen dargestellt werden? Lassnigs Malerei ist der Versuch, Körpererfahrungen mit dem nach innen gerichteten Auge Gestalt zu geben. Tatsächlich umrunden kann man die Gemeinschaftsarbeit Bank der Malerin Susanne Kühn und der Architektin Inessa Hansch. Inklusive Hineinsetzen sind verschiedene Aktivitäten erwünscht. Die einzelnen malerischen und architektonischen Komponenten dieser Arbeit bedingen einander und sind nicht entweder dem einen oder dem anderen Medium zuzurechnen: Malerei und Architektur bilden eine Einheit. Die hier entstandenen räumlichen Zonen sind gleichzeitig da und doch ist es rein physisch nur möglich, jeweils einen Teil der Arbeit zu sehen. Mit der Körperbewegung ändert sich stets auch der eigene Bezug zur Arbeit. Dabei nimmt die (imaginäre) Verinnerli- chung der Bilder genauso Raum ein wie die (reale) Anschauung. Das Umrunden, die Erinnerung an schon Gesehenes, die Erwartung auf noch zu Sehendes sowie die mentale Zusammenführung der Bestandteile sind die Rahmenbedingungen der Wahrnehmung. Die mentale Zusammenführung verbindet diese Arbeit mit den Gemäl- den von Ika Huber, denn diese scheinen auch aus ver- schiedenen Teilen zu bestehen, die in Schwüngen und feinen Schichten, in Leerstellen und leuchtenden Farb- knäueln neben- und (wie verschleiert) hintereinander angeordnet sind. Sie erinnern an Träume, in denen man- ches deutlich, vieles verschwommen und ohne einen zwingenden Zusammenhang plötzlich auftaucht. Die Bestandteile scheinen ein Eigenleben zu haben – Huber lässt sie gewähren und hält sie in fragiler Balance. Als »Erinnerungsstücke«3 bezeichnete Ulrike Prasch Ika Hubers Bilder. In Jardin VI beispielsweise sei der Blick aus Hubers Atelierfenster in den mütterlichen Garten eingefangen und damit eine doppelte (emotionale sowie lokale) Erinnerungsarbeit in Gang gesetzt.4 1 Eberhard W. Kornfeld, Ernst Ludwig Kirchner. Nachzeich- nungen seines Lebens. Katalog der Sammlung von Werken von Ernst Ludwig Kirchner im Kirchner-Haus Davos, Bern/ Fribourg 1979, S. 344. 2 Ebd. 3 Ulrike Prasch, Ika Huber. Jardin VI, in: Bilder. Skulpturen. Objekte, Museum für Neue Kunst Freiburg, Freiburg 2009, S. 24. 4 Vgl. ebd.

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