Leseprobe

71 Müde und verhärmt schaut sie emotionslos mit gesenktem Kopf nieder. Die Schatten unter ihren Augen sind tief. Ihr Körper wirkt gegenteilig kräftig, gar robust, als sei er schwere Arbeit gewohnt; mit der Hand entblößt sie ihre linke Brust. Mit Verweis auf das Darstellungsmotiv der maria lactans , der stillenden Gottesmutter, ist hier eine reale Frau zugegen, die dem fehlenden Kind ihre Brust darbie- tet; oder gar den Betrachter_innen? In Hinblick auf die Titelgebung – die Jahreszahl 1945, Kriegsende – erscheint die Frau als Symbol der Versorgerin einer Nation: In Abwe- senheit der Männer verrichteten die Frauen während und nach dem Zweiten Weltkrieg alle überlebensnotwendigen Aufgaben, im Privaten wie im Gesellschaftlichen. Der körperliche Eindruck der Frau offenbart nicht nur die Last, die auf ihren breiten Schultern liegt, sondern zugleich ihre körperliche Stärke und Unversehrtheit. Das Porträt schwankt folglich zwischen Kraft und Erschöpfung, zwischen symbolischem und ihrem eigenen, ganz indivi- duellen Schicksal. Über die Künstlerin Adelaide Block ist äußerst wenig bekannt. Anfang des 20. Jahrhunderts in Hamburg geboren, war sie Mitglied der GEDOK, dem heute ältesten und größten Netzwerk von Künstlerinnen im europäischen Raum, gegründet 1926 durch Ida Dehmel (1870–1942). Tired and careworn, she looks down emotionlessly, her head bowed, dark shadows under her eyes. Her body seems strong, even robust, as if inured to hard work; she exposes her left breast with her hand. With reference to the maria lactans motif, the Nursing Madonna, a real woman is depicted here, offering her breast to an absent infant; or even to the viewers? In view of the title – 1945, the end of the war – the woman symbolises the role of provider to the nation: in the ab­ sence of men, women performed all the necessary and essential tasks for survival during and after the Second World War, in private as well as in society. The physical impression of the woman reveals not only the burden that lies on her broad shoulders, but at the same time her physical strength and integrity. As a result, the portrait oscillates between strength and exhaustion, between the symbolic and her personal, quintessentially individual fate. Very little is known about Adelaide Block. Born in Hamburg at the beginning of the twentieth century, she was a member of GEDOK, the oldest and largest net- work of women artists in Europe today, founded in 1926 by Ida Dehmel (1870–1942). 9 Adelaide Block 1945 , 1969 1945

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