Leseprobe

9 Der Titel dieses Essays geht zurück auf einen Satz mei- nes ehemaligen Chefs am Kölner Museum Ludwig, des Ausstellungsmachers Kasper König: »Das Museum ist eine Zeitmaschine«. Er ist mir aus unserer Zusammen­ arbeit nachhaltig im Gedächtnis geblieben und bringt eine wesentliche Operationsgrundlage und Faszination auf den Punkt, die Museumsarbeit für mich ausmacht. Das Bild der Zeitmaschine war mir sofort plausibel: Es geht um Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten. Und um die Eröffnung der daraus resultierenden fantas­ tischen Möglichkeiten, wenn sich durch das Zusammen- spiel von Gleichzeitigem mit Gleichzeitigem und/oder mit Ungleichzeitigem die unterschiedlichen Qualitäten, Diffe- renzen, Ähnlichkeiten, Haltungen etc. auf einen Blick materialisieren und erfahrbar werden. Durch die Zeiten hindurch, über die Zeiten hinweg. Das impliziert auch die Frage nach Überzeitlichkeit im Sinne von etwas Überge- ordnetem, allgemein Gültigem. Das heißt, es stellt auf den Prüfstand, ob etwas heute (noch/wieder) Relevanz hat, bzw. öffnet durch aktuelle Diskurse unerwartete, zur Ent- stehungszeit vielleicht nicht intendierte Bezugssysteme. So verändern sich unsere Perspektiven beständig und sind horizonterweiternd in beide Richtungen: Einerseits mögen den Werken aus ihrer Entstehungszeit heraus Kriterien innewohnen, welche die heutigen Diskussionen zu bereichern imstande sind. Andererseits vermag der aktuelle Diskurs, neue, verborgene, marginalisierte Perspektiven einzubringen, die wiederum die Kunstge- schichte durch Dokumentation und Anerkennung ver­ änderter Rezeptionen anreichern und weiterschreiben. Auf diese Weise macht das Museum mittels Sonder­ ausstellungen und Arbeiten mit der Sammlung seinen Einfluss dahingehend geltend, dass (Kunst-)Geschichte mehr Fragen aufwirft, als dass sie bleibende Antworten liefert. Dieser Gedanke wird im Folgenden noch wichtig, wenn die Biografien von Künstlerinnen in den Blick genommen werden. Retro/perspektiv1 – zurück in die Zukünfte Neben den Erkenntnissen aus einer heutigen Perspektive auf Vergangenes und Gegenwärtiges hat die museale Zeitmaschine noch Einfluss auf eine andere, weniger präsente, aber deswegen nicht weniger wirkmächtige Zeitlichkeit: auf das Zukünftige. Robert Musil hat den Möglichkeitssinn (der erfindet, was sein könnte, sollte, müsste) für alle drei Zeitebenen – Vergangenheit, Gegen- wart, Zukunft – angeführt. Der Möglichkeitssinn lässt sich »[…] als Fähigkeit definieren, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.«2 Auf diese Weise werden nicht nur »Wirklichkeiten« wahrgenommen, in ihnen gedacht und gehandelt, sondern auch die potenziellen Möglichkeiten gleichberechtigt daneben gestellt. All das, was jetzt Wirklichkeit ist, waren früher (auch nur eine von mehreren) Möglichkeiten. Die (demokratische) Öffentlich- keit hat den Anspruch, dass Museen den Freiraum von wirklichen Möglichkeiten zu möglichen Wirklichkeiten eröffnen, schützen und ausschöpfen, sowie die Verpflich- tung, sicherzustellen, dass sie das auch tun können. Das Museum operiert im öffentlichen Auftrag in einem Mög- lichkeitsraum, der nicht alternativlos sein kann. Wie hätte es sein können? Wie wäre es? Wie könnte es werden? – Das sind seine Leitfragen. In welcher Hinsicht die Auswahl für die Ausstellung Freundschaftsspiel. Horst und Gabriele Siedle-Kunststif­ tung : Museum für Neue Kunst eine Zeitreise in die Zukünfte impliziert, ist Leitgedanke für die folgende Betrachtung. Die Horst und Gabriele Siedle-Kunststiftung ist hervorgegangen aus einer seit den 1980er-Jahren von dem Unternehmerpaar zusammengetragenen privaten Sammlung, die zunächst einmal begonnen hat wie viele Sammlungen: mit dem Erwerb eines einzelnen Kunst- werks. Dann kam das nächste hinzu und das nächste. Diese Auseinandersetzung mit Kunst musste sich keinen von außen herangetragenen Kriterien und Ansprüchen stellen. Mit der steigenden Anzahl an Werken wuchsen aber nicht nur das Wissen und die persönliche geistige Bereicherung, sondern die Zusammenhänge innerhalb der Kunstgeschichte wurden sichtbarer. Horst und Gabriele Siedle haben jedes einzelne Kunstwerk mit Bedacht und Leidenschaft ausgesucht, sich fachkundig beraten lassen und sich mit jedem hinzukommenden Werk gemeinsam an den sich ergebenden jeweils neuen Blickwinkeln und Konstellationen erfreut. Das über die Jahre entstandene Konvolut hat eine solche Strahlkraft entwickelt, dass sich das Ehepaar dazu entschlossen hat, die Sammlung öffentlich zu machen. Mit der Stiftungs- gründung 2003 wurde der Grundstein gelegt, diese herausragende Privatsammlung dauerhaft für die Öffent- lichkeit zu sichern und zugänglich zu machen. An dem gemeinsamen Ausstellungsprojekt hat uns gereizt, dass sich die Sammlung durch einen spezifischen und einzigartigen Fokus auszeichnet. Die Werke stammen fast ausschließlich aus der Klassischen Moderne und das Interesse des Sammlerpaars liegt in der Darstellung der menschlichen Figur, meist in Porträtform, wobei hauptsächlich Frauen abgebildet sind. Die stringente motivische Konzentration ist eine herausfordernde Besonderheit. Ein weiteres Merkmal, das unser Interesse geweckt hat, ist die Tatsache, dass die Maler allesamt Männer sind, deren Œuvres im kunsthistorischen Kanon des 20. Jahrhunderts als Leitsterne galten. Das hat in vielen Fällen dazu geführt, dass sie sich mitunter selbst zu Künstlergenies stilisiert haben bzw. durch andere dazu gemacht wurden. Beide – die Frauenbildnisse und die Heroen – werden überlagert von vehementen (sich aus- schließenden) Bewunderungs- und Abwehrgesten. Hier die begeisterte Faszination für die dargestellten Frauen und

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