Leseprobe

10 was sie repräsentieren, dort die pauschale Verurteilung, dass Frauen auf den Sockel gestellt und passivisches Objekt sind. Hier die (ökonomische und ästhetische) Hul- digung der Malerfürsten, dort die Absage an das Narrativ einer Kunstgeschichte als Genielegende. In der Ausein­ andersetzung mit der Sammlung haben wir uns gefragt: Kann man sich überhaupt noch unvoreingenommen einzelne Gemälde anschauen oder sieht man nur einen ›Picasso‹ oder einen ›Kirchner‹? Wie kann man ihnen jenseits der Klischees begegnen? So sehr Markenbildung und Wiedererkennbarkeit für diese Künstler eine Rolle gespielt haben, so sehr ging es ihnen aber auch um die jeweils im einzelnen Werk gefundene Bildlösung. Wie Picasso in die Zukünfte führen? Die für die Ausstellung getroffene Auswahl der Werke aus der Horst und Gabriele Siedle-Kunststiftung konzentriert sich auf vier Künstler, die zugleich die unterschiedlichen Neigungen des Sammlerpaars spiegeln: Fernand Léger (1881–1955), Pablo Picasso (1881–1973), Ernst Ludwig Kirchner (1880–1938) und Oskar Kokoschka (1886–1980). Wie bei unserem Ausstellungsformat Freundschaftsspiel üblich, reagiert das Museum für Neue Kunst mit seiner Sammlung auf die einzelnen Arbeiten. Um die oben beschriebenen Huldigungs- und Abwehrmechanismen außer Kraft zu setzen, haben wir der motivischen Konzen- tration andere thematische Zugänge abgewonnen, Gleich- zeitiges mit Ungleichzeitigem konfrontiert, bekannte und weniger bekannte Künstler_innen nebeneinander präsen- tiert. Aus den Erweiterungen erhofften wir uns unvorein- genommene, interessante und neue Zugänge. So entstan- den sieben thematische Räume, in denen Werken der Klassischen Moderne zeitgenössische Arbeiten aus der Museumssammlung zur Seite gestellt wurden. Objektivität und Unvoreingenommenheit sind Teil des musealen Modus Operandi und kommen auch den jeweiligen Leihgaben, die für Ausstellungen zusammen­ getragen werden, zugute. Durch sie können bestehende Kanonisierungen und damit einhergehende Automatis- men für (immer wieder neue) Auseinandersetzungen pro- duktiv gemacht werden. Museen sind insofern Advokaten, Motivatoren und Katalysatoren dieses (bisher noch nicht bekannt gewesenen, irregulären, atypischen, umstrittenen) Neuen, denn sie verdanken der Vergangenheit genauso viel, wie sie der Zukunft schulden. In der Zukunft werden Kunsthistoriker_innen unsere Ausstellungen und Sammlungsarbeit reflektieren, Globalisierungs- und Diversitätsnarrative identifizieren und ihre eigenen Perspektiven anwenden. Sie werden feststellen, dass das Museum für Neue Kunst in dieser Ausstellung 70 Prozent Künstlerinnen zeigte und diese Zahl vielleicht mit der Gesamtzahl der Künstlerinnen, die bis dato in der Sammlung sind (nämlich zwei Prozent), in Verbindung bringen. Ist diese Überzahl an Künstlerinnen gar programmatisch? Oder ein feministisches Exempel einer (momentan) fast ausschließlich weiblichen Mit­ arbeiterschaft des Museums? Diese aktuell vermehrt betriebenen Aufarbeitungen weiblicher Positionen stellen nicht nur sicher, dass die Künstlerinnen, ihre Kontexte, Netzwerke und Leistungen nicht vergessen werden und dass ihr Œuvre gesichtet, erhalten und gesammelt wird. Die Aufarbeitungen sind aus noch einem anderen Grund unverzichtbar, denn sie stellen der scheinbar auserzähl- ten und abgeschlossenen Vergangenheit parallele, noch unerzählte Geschichten zur Seite. In diese neu hinzu­ kommenden, oft unbekannten und neu zu bedenkenden Kontexte und Umfelder fließt ein heutiges Forschungs­ interesse ein. Dadurch wird Kunstgeschichte weitreichen- der und komplexer und, was vital ist: unabgeschlossen. In den kommenden Generationen wird sicherlich das Wissen um die Biografien von Künstlerinnen, die Entstehung und Kontexte ihres Schaffens selbstverständ- lich und allgemein zugänglich sein und man wird ihre künstlerischen Positionen nicht mehr unter dem (primä- ren) Fokus des Abgleichs mit und der Abarbeitung an männlichen Positionen sehen. Was passiert, wenn sie nebeneinander im Museum hängen? Sind sie gleichwer- tig? Und werden sie als gleichwertig angesehen? Können die Werke der Heroen durch die Eröffnung anderer Kon- texte (wieder) als einzelnes Kunstwerk erfahrbar werden? Damit das so kommen kann, muss heute jedoch das Augenmerk auf ebendiese Lücke gelegt werden. Die Kunsthistorikerin Julia Voss beschreibt im Zusammen- hang mit ihrer Biografie über die Künstlerin Hilma af Klint (1862–1944) die unbedingte Notwendigkeit, Kontexte und Umfeld in die Erfassung und Einordnung der künstle- rischen Arbeit einzubeziehen: »Die Leben von Frauen werden so lange nicht erzählt, bis alle glauben, es gebe nichts zu erzählen. Die Person wird daraufhin ebenso unterschätzt wie das Werk, die Kunst wirkt auf einmal wie eine Privatangelegenheit, weil keine Verbindungen über- liefert sind, zur Entstehung, zur Geschichte, zu Ereignis- sen oder anderen Kunstschaffenden und ihren Arbeiten. Ohne diese Informationen, ohne Kontext und Umfeld, schrumpft ein Œuvre, es wird kleiner und kleiner, bis es überschaubar und belanglos wirkt, wie ein Insekt, das in einem Regentropfen eingeschlossen ist. Es sollte zu denken geben, dass die Biographien von Künstlerinnen oft viel schlechter erforscht sind als die ihrer männlichen Kollegen.«3 1 Hilma af Klint Die zehn Größten, Nr. 4, Jünglingsalter, Gruppe IV , 1907, Stiftelsen Hilma af Klints Verk, Stockholm, Inv. HAK 105 The Ten Largest, No. 4, Youth, Group IV , 1907, Stiftelsen Hilma af Klints Verk, Stockholm, Inv. HAK 105

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