Leseprobe
Die Musealisierung Weimars 10 Die »literarische Wallfahrt« zu den klassischen Stätten Aus der Auseinandersetzung mit dem Moderni- sierungsschub ergibt sich beinahe zwangsläufig die Frage nach den Anfängen, d.h. nach dem Be- ginn der Musealisierung der alten, ›klassischen‹ Stadt Weimar, deren Hauptsymbole – der Roko- kosaal der ehemals herzoglichen Bibliothek und das Goethehaus – ebenfalls weltbekannt sind. Sie wurden, wie auch das Schillerhaus und Goethes Gartenhaus, schon früh zu Zielpunkten einer Wallfahrt nachWeimar (Jens Riederer). Eine solche beginnt bereits in der Weimarer Klassik selbst – Goethe lebte von 1775 bis 1832 in Weimar, Schiller von 1799 bis 1805, ChristophMartinWie- land von 1772 bis 1813 –, in dem Wunsch, den großen Dichter einmal zu sehen oder wenigstens in sein Umfeld einzutreten. Heinrich von Kleist und Heinrich Heine kamen nach Weimar und, im Falle Heines, für einen Augenblick auch zu Goethe persönlich. Mit dessen Tod am 22. März 1832 verlor die Kleinstadt mit damals kaum 8000 Einwohnerin- nen und Einwohnern ihren Anziehungspunkt. An dessen Stelle trat nun erst recht der Besuch der biografischen Stätten, der Dichterhäuser. Eine Selbstinszenierung der Weimarer Klassik gab es schon, als es den Begriff »Weimarer Klas- sik« selbst noch gar nicht gab, nämlich in der Ge- staltung des Bibliothekssaals mit Büsten der ge- rade eben lebenden bürgerlichen Autoren in den 1780er Jahren. Und die literarische Selbststilisie- rung Weimars hat in Goethe einen Hauptakteur, so in seinemNachruf Zum feierlichenAndenken der durchlauchtigsten Fürstin und Frau Anna Amalia (1807), der auf den Kanzeln des Herzogtums ver- lesen wurde. Doch scheint ein wesentlicher An- stoß zur Musealisierung der Klassikerstadt (denn bis dahin war sie nur eine solche) von außen ge- kommen zu sein: die langsam, aber stetig wach- sende und seitdem nie mehr abreißende Anzahl der Besucherinnen und Besucher auf den Spuren ihrer Klassiker, die weltliche Wallfahrt zu den Lebens- und Sterbestätten Schillers und Goethes. Diese Wallfahrt hat strukturelle Vorstufen, und zwar solche aus der Religionsgeschichte wie auch kulturelle, auch wenn diese kaum voneinander abzugrenzen sind. Zu den religionsgeschichtli- chen Vorstufen gehört der Besuch der Stätten (so- gar der Häuser) der christlichen Heiligen, und dabei ebenso legendärer Stätten wie historischer. Zu ersteren gehört das im 13. Jahrhundert von Engeln per Luftfracht nach Loreto (Marken) be- förderte und später durch eine Kirche überbaute Geburtshaus Mariens aus Nazareth, zu letzteren zunächst besonders Sterbestätten, etwa die der Heiligen Klara und Franz in Assisi. Daneben tra- ten auch Stätten aus dem Leben der Heiligen, Ge- burtshäuser und andere biografische Orte. In der Kirche San Francesco a Ripa in Rom ist dasjenige Zimmer des einstigen Blasius-Hospizes umbaut und erhalten worden, in dem Franz übernach- tete, als er in Romweilte. Verwahrt wird dort ein schwarzer Stein, den er wie ein Kopfkissen nutzte (»sasso dove posava il capo«). Zu den kulturgeschichtlichen Vorstufen gehört dagegen der Umgang mit Stätten antiker Dichter, die im späten Mittelalter und in der frühen Neu-
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