Leseprobe

11 Ein geschichtlicher Abriss zeit ins Bewusstsein traten, im besonderen Fall sogar im Altertum selbst: das Haus Pindars in Theben, das einst Alexander der Große verschont haben soll, die Grotte des Euripides (auf der ägäi- schen Insel Salamis) und die Häuser der römi- schen Dichter Horaz,2 Vergil und Ovid. Giovanni Boccaccio berichtet in seiner Dante-Biografie von 1355/1370, bei Mantua werde Vergils Haus geehrt, und das Landhaus des Horaz, von ihm selbst be- sungen, wurde zu einem Sehnsuchtsort der Spä- teren – es gehört auch zu den Subtexten des Wie- landgutes in Oßmannstedt bei Weimar. Vergils Grab auf dem Posilipp bei Neapel war im Alter- tum bekannt und wurde aufgesucht. Es geriet im frühen Mittelalter in Vergessenheit und wurde seit dem 14. Jahrhundert, identifiziert wohl an irrtümlicher Stelle, erneut aufgesucht; es wurde nicht nur selbst zum Zielpunkt von Reisen, son- dern im 18. Jahrhundert in Parkanlagen nachge- bildet, so im englischen The Leasowes (West Mid- lands), in Kassel-Wilhelmshöhe und in Tiefurt bei Weimar. Doch auch die Stätten spätmittelalterlich-früh- neuzeitlicher Künstler wurden erhalten, verehrt, aufgesucht, beispielsweise die Häuser von Giulio Romano inMantua und von Vasari in Arezzo. Der berühmteste, vielleicht prototypische literarische Reisende des spätenMittelalters ist Francesco Pe- trarca. Er kam 1341 nach Neapel, um die von Ver- gil beschriebenen Stätten (sechstes Buch der Ae- neis ) und auch sein Grab aufzusuchen. Petrarcas unzählige und rastlose Reisen durch Italien, Deutschland, Frankreich sind in seinen Briefen immer literarisch grundiert, er sieht, was er ge- lesen hat. Noch zu Lebzeiten wurde Petrarca, 2 Das Geburtshaus des Horaz in Venosa (Basilikata) ist allerdings erst Jahrhunderte nach seinem Tod errichtet worden. hochgeehrt und auf dem Kapitol in Rom zum Dichter gekrönt, selbst zum Gegenstand der Ver- ehrung. Sein Geburtshaus in Arezzo wurde seit 1350 von den Nachbarn erhalten und ihm, Pe­ trarca selbst, auf der Durchreise als solches ge- zeigt. Vollends Petrarcas letztes Wohnhaus in Arquà in den Eugenäischen Hügeln – hier starb der Dichter 1374 – blieb immer erhalten und gilt heute als das älteste Dichterhaus Europas. Gleich nach Petrarcas Tod hatte Boccaccio die literarische Wallfahrt nach Arquà vorausgesagt (an France- scuolo da Brossano, 3. November 1374). Seit 1546 öffentlich zugänglich, werden das Haus und auch das Grab von da an von unzähligen Reisenden – oder Wallfahrern – aufgesucht. Berühmtes litera- risches Zeugnis der Wallfahrt nach Arquà ist Ugo Foscolos Roman Letzte Briefe des Jacopo Ortis ( Ul- time lettere di Jacopo Ortis , 1798/1802), der Werther Italiens (wennman es so verkürzend sagen darf). Die Landschaft Petrarcas bildet die Szenerie von Jacopos Schmerz, er besucht das »heilige Haus«, dessen Verfall zum Sinnbild für den Niedergang Italiens wird. Dies ist zum Verständnis Weimars insofern entscheidend, als auch hier – besonders im 19. Jahrhundert – die Dichterhäuser zu Sym- bolen der Nation wurden; Goethes Haus wurde sogar, geschichtlich vielleicht einmalig, zum Na- tionalmuseum.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1