Leseprobe
Quartier der Moderne 127 trachtung , und wurde nun selbst zum Gegenstand eines Archivs, und das zu Lebzeiten. Das großartige Schaffensjahrzehnt Nietzsches, die 1880er Jahre, verbrachte er, rastlos wandernd, in Oberitalien und im Sommer im Engadin, nämlich in Sils-Maria, seiner geliebten Einsie- delei, »6.000 Fuß über demMeere und viel höher über allen mensch- lichen Dingen«. Doch zumKranksein wurde er 1889 nach Deutschland zurückgebracht, ins ungeliebte Thüringen. In Naumburg betreute ihn seine Mutter und, als diese 1897 starb, seine Schwester Elisabeth in Weimar. Sie hatte 1894 in Naumburg das Nietzsche-Archiv gegründet und erkannte ihre Lebensaufgabe in der Pflege des Bruders und seiner Papiere. Ihr Ehemann Bernhard Förster hatte 1889 Selbstmord began- gen, nachdem sein antisemitischer Siedlungsplan Neu-Germanien in Paraguay gescheitert war. Das Naumburger Nietzsche-Archiv zog 1896 ins nahegelegene Weimar um, 1897 folgte der demente Nietzsche selbst. Kurz zuvor, 1896, war dort das Goethe- und Schiller-Archiv eröffnet worden. Elisabeth Förster nannte sich nun selbstbewusst Förster-Nietzsche. Als Standort wählte sie 1897 die Villa Silberblick am Stadtrand. Von hier aus ergaben sich charakteristische Sichtach- sen, die heute zugewachsen sind bzw. nicht mehr bestehen, einmal zumGoethe- und Schiller-Archiv amRande der Altstadt, andererseits zumBismarckturm auf dem Ettersberg. Die Klassiker galten vielen als ideelle Reichsgründer. Bismarck hingegen war der Stifter des neuen Deutschen Reiches. Nietzsche wird in diesem inszenierten Dreieck mit der Erwartung eines künftigen Kulturreiches verbunden. Der Bis- marckturmwurde 1949 auf Beschluss der SED in Berlin gesprengt. An etwa seiner Stelle entstand bis 1958 der sogenannte Turm der Freiheit im Rahmen des Buchenwald-Mahnmals, er ist aber vom Nietzsche- Archiv aus aufgrund des Baumbestands nicht zu sehen (s. Gedenk- stätte Buchenwald). Die Besitzerin der Villa war die Schweizerin Meta von Salis, die Nietzsche verehrt hatte und mit ihm in den letzten Jahren vor seinem Zusammenbruch befreundet war. Nach Auseinandersetzungenmit ihr übernahm Elisabeth Förster-Nietzsche selbst das Gebäude. Nietzsche wohnte im ersten Stockwerk und wurde ausgewählten Besucherinnen
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