Leseprobe

Nietzsche-Archiv 128 und Besuchern »gezeigt«. Rudolf Steiner (der als Mitarbeiter des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar war) hat später festgehalten, trotz späterer schwerer Konflikte sei er Elisabeth Förster-Nietzsche dankbar, »daß sie mich bei dem ersten der vielen Besuche, die ich bei ihr machen durfte, in das Zimmer Friedrich Nietzsches führte. Da lag der Umnachtete mit der wunderbar schönen Stirne, Künstler- und Denkerstirne zugleich, auf einem Ruhesopha. Es waren die ersten Nachmittagsstunden. Diese Augen, die im Erloschensein noch durch- seelt wirkten, nahmen nur noch ein Bild der Umgebung auf, das kei- nen Zugang zur Seele mehr hatte. Man stand da, und Nietzsche wußte nichts davon. Und doch hätte man von dem durchgeistigten Antlitz noch glauben können, daß es der Ausdruck einer Seele wäre, die den ganzen Vormittag Gedanken in sich gebildet hatte, und die nun eine Weile ruhen wollte. Eine innere Erschütterung, die meine Seele ergriff, durfte meinen, daß sie sich in Verständnis für den Genius verwandle, dessen Blick auf mich gerichtet war, mich aber nicht traf. Die Passivi- tät dieses lange Zeit verharrenden Blickes löste das Verständnis des eigenen Blickes aus, der die Seelenkraft des Auges wirken lassen durfte, ohne daß ihm begegnet wurde.« Im Arbeitszimmer des ersten Stockwerks starb Nietzsche im Alter von 55 Jahren, verstummt und geistig umnachtet, am 25. August 1900. Anders als die Sterbezimmer Schillers und Goethes in Weimar ist die- ser Raum aber nie auch sein Arbeitszimmer gewesen. Keine Zeile hat Nietzsche in Weimar geschrieben. Die Geschichte des Nietzsche-Archivs und mit ihm die der Nietz- sche-Rezeption führt durch alle Untiefen des 20. Jahrhunderts. Am Anfang stand eine kühne Entscheidung: Nietzsches Schwester beauf- tragte 1902/03 den belgischen Designer Henry van de Velde, das Ge­ bäude umzugestalten. Er verbrachte seine produktivste Zeit inWeimar als Berater des Großherzogs Wilhelm Ernst mit der Förderung von Kunst und Kunsthandwerk. Den Archivsaal machte er zu einer Inku- nabel des Jugendstils, die sich von dem »Urväter Hausrat« der Dich- terhäuser abhob (ebenfalls inWeimar erhalten ist seinWohnhaus, das Haus Hohe Pappeln im Stadtteil Ehringsdorf, s. Haus Hohe Pappeln). Auf Anregung von Harry Graf Kessler – und von ihm bezahlt – wurde

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