Leseprobe

69 In einer seiner kompositorisch interessantesten Radierungen (Kat. 114) stellte Ludwig von Gleichen-Rußwurm 1894 vier Frauen in einer Parklandschaft dar. Der Blick geht dabei von einer höher gelegenen Terrasse aus und fällt durch den Einschnitt einer Treppenflucht auf eine elegant gekleidete Dame mit federgeschmücktem Hut. Einen Blumenstrauß in der Hand, flaniert sie entlang eines heckengesäumten Parkweges. In der Tiefe, jenseits der im Vordergrund den Weg schützend überragenden Baumschatten, öffnet sich eine sonnenbe- schienene Ebene, auf der drei kleine Frauengestalten zu sehen sind; zwei davon sind offen- bar mit dem Zusammenlegen vonWäsche beschäftigt. Obwohl die Figuren kaum zu erken- nen sind, wird doch deutlich, dass es sich hier imGegensatz zu der feinen Dame imVorder- grund um Dienerschaft oder bäuerliches Personal handelt. Die im vorderen Bildbereich dargestellte Treppe, auf deren Absätzen große, mit Agaven bepflanzte Töpfe stehen, gehört zu den Gartenanlagen von Schloss Greifenstein, dem Stammsitz der Familie von Gleichen-Rußwurm (Kat. 52, Abb. 69). Die sonnenbeschienene Fläche in der Tiefe dagegen verbindet das Schloss mit dem Dorf Bonnland und seinen bäuerlichen Bewohnern. In kon- zentrierter Weise spiegelt das Blatt damit die Lebenswirklichkeit Gleichen-Rußwurms, die elegante Welt des Adels vor dem Hintergrund bäuerlichen Lebens. Es war diese Lebens- wirklichkeit, die die Motivwelt seines Schaffens wesentlich bestimmte. Der Rhythmus von Gleichen-Rußwurms Lebensführung lässt sich anhand seiner datierten und oftmals mit demOrtsnamen bezeichneten Aquarelle und Zeichnungen relativ gut verfolgen: Die Herbst- und Wintermonate verbrachte er zumeist in Weimar und seit 1880 auch in Berlin, beteiligte sich am künstlerischen Leben und verkehrte in literarischen Kreisen; in Berlin besuchte er die Ausstellungen etwa bei Gurlitt und Cassirer. Demgegenüber waren die Monate von Mai bis September wechselweise seinen Reisen und Kuraufenthalten und dem Leben im heimischen Bonnland gewidmet. So finden wir Gleichen-Rußwurm etwa im Juni/Juli des Jahres 1881 auf Reisen in Frankreich, wo er Aquarelle in Fontainebleau, Blois, Trouville, Honfleur und Le Havre malt, imAugust und September dagegen in Bonn- land. Im Jahr 1882 verbringt er den Juli in Bonnland, den August in Bad Harzburg und auf Helgoland. 1883 hält er sich im Frühsommer von Mai bis Juli in Bonnland auf, während er im August und September eine größere Reise unternimmt, die ihn nach München, Lindau, Lugano, Luzern, Mailand und Venedig führt. Diesen wechselnden Rhythmus setzte er über die Jahre fort. 1 Künstlerisch bot ihm Bonnland dabei vor allem die Inspiration landschaft- licher und bäuerlicher Themen, während die Reisen und Kuraufenthalte die selteneren Motive eleganter Spaziergänger oder spielender Kinder im Park anregten. Zentraler Lebensmittelpunkt blieb Schloss Greifenstein, idyllisch gelegen in den unterfränkischen Hügeln zwischen Wern und Saale. Während Gleichen-Rußwurm in seinen ersten Jahren auch in Weimar die bäuerliche Umgebung festhielt (Kat. 5, 6, 12), verlegte er sich später immer mehr auf die Landschaft um Bonnland mit ihrer lieblicheren Anmutung. Er trug damit auch seiner stilistischen Entwicklung von der erdbetonten Weimarer »Grau- malerei« hin zu einer heiteren impressionistischen Farbigkeit Rechnung. »Weite wird hier ein lieblicher Raum zwischen Wald und Hügel, und die Landschaft findet Gefallen, in einem Schachbrett froher Idyllen sich vor sich selbst zu verstecken«, beschrieb Ludwig Springer 1933 die Gegend. 2 Er schilderte auch die Situation in Bonnland: »Das Dorf drängt sich vor demHügelvorsprung, der das Schlößchen trägt, ganz in den leichten Knick, mit dem das Tal der Höhe weicht. Einige Dutzend Dächer lugen rostfarben um den Kirchturm geduckt, aus Pappeln, Weiden und Kastanien. Vom Schlößchen gar schimmert nur ein heller Giebel durch das Grün der Platanen herüber, denn es steht abseits auf blumenüberwucherter Klippe.« 3 1 Zu Gleichen-Rußwurms Reisen vgl. den Beitrag von Stephan Dahme in diesem Katalog. 2 Springer 1933, o. S. 3 Ebd. Diese Situation hat sich in weiten Teilen erhalten, denn 1937 mussten die Bewohner ihr Dorf verlassen. Als Truppen- übungsplatz blieb es bis heute in seinem Grundbestand unberührt.

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