Leseprobe

70 — Henrike Holsing In diesem beschaulichen Ambiente wuchs Gleichen-Rußwurm auf – als Sohn eines Gutsherrn, dem das Dorf Bonnland unterstand. Gleichen-Rußwurm selbst bereitete sich als junger Mann darauf vor, dieses Gut zu übernehmen: Nach Studien in Jena, Heidelberg und Genf besuchte er die Landwirtschaftliche Akademie in Hohenheim bei Stuttgart. Wenn er also von Beginn seiner künstlerischen Karriere an die Agrarlandschaft mit bäuerlicher Staffage als Hauptmotiv wählte, so widmete er sich einem Thema, das ihm von Kindheit an vertraut war und dem er bei Streifzügen durch seine Heimat begegnete. So suchte er in seiner Malerei nicht nach einer ihm fernen Lebenswelt, wie etwa Max Liebermann, der aus einem großbürgerlichen und großstädtischen Umfeld kam. Ebenso wie die bäuerlichen Landschaften gehörten aber auch die gepflegten Parks in Bonnland und anderswo zu Glei- chen-Rußwurms selbstverständlichem Umfeld. Hier wie da beschwört er in seinen Bildern das beschauliche Eins-Sein des Menschen mit der von ihm geformten Natur. Das städtische Leben, das er in Weimar und Berlin durchaus auch kultivierte, spielt dagegen in seiner Kunst – mit wenigen Ausnahmen – keine Rolle. Gleichen-Rußwurms motivische Schwerpunkte wurden durch seine Ausbildung an der Weimarer Kunstschule, wo die Landschaftsmalerei die stärkste Kraft und Max Schmidt und Theodor Hagen seine Lehrer waren, noch begünstigt. Neigung und Möglichkeiten fielen hier in idealer Weise zusammen. Und wenn er zunächst – und auch später immer wieder – Landschaften ohne Staffage malte, so fügte er doch bald seinen Darstellungen immer regelmäßiger das bäuerliche Personal ein. Die Kartoffelernte (Kat. 5), gemalt 1873 in Weimar, zeigt eine vereinzelt mit Bäumen bestandene Landschaft unter einem locker bewölkten Abendhimmel. Die streng bildparallele Anordnung der Landschaftszonen wird von einem sanft geschwungenen Weg durchbrochen, der von der vorderen Bildmitte aus in die Tiefe führt. Ein Mann und hinter ihm ein Mädchen mit einer beladenen Schubkarre nähern sich demBetrachter. Sie transportieren wohl Kartoffeln, denn hinter ihnen erstreckt sich über einen flachen, rechts von den Dächern eines Dorfes begrenzten Hügel das Kar- toffelfeld. Gefüllte Kartoffelsäcke stehen aufgereiht auf dem Feld, und im Hintergrund nähern sich schemenhafte Gestalten von Bauern und ein Pferdegespann dem Dorf. Weiter vorn versorgt eine Frau ein Feuer mit Holz. Der Arbeitstag ist vorüber, nun wird man im Feuer geerntete Kartoffeln rösten. Der Rauch und die Glut des Feuers unter dem am Hori- zont schon rötlich glänzenden Abendhimmel in der herbstlichen Landschaft tragen zur friedlichen Stimmung der Szenerie bei. Die Härte der Arbeit, bei der die Bauern tief gebeugt mit bloßen Händen die Kartoffeln aus der herbstlichen Erde klaubten, wird dagegen nicht spürbar. Dies ist ein Zug, der sich durch Gleichen-Rußwurms gesamtes Werk ziehen wird: Nur wenige Szenen zeigen die Arbeit selbst, meist ist das Tagewerk bereits getan; der Heim- weg in friedlicher Abendstimmung kehrt als Motiv immer wieder, gelegentlich auch der Weg zur Arbeit, was mitunter so genau nicht zu unterscheiden ist: Das gleichfalls im Jahr 1873 gemalte und bei seiner Inventarisierung in der Würzburger städtischen Sammlung Bäuerinnen auf dem Weg zur Feldarbeit betitelte Bild (Kat. 6) wurde durch eine Ölstudie vorbereitet, die im gleichen Inventarbuch den Titel Bäuerinnen auf demHeimweg durch die Felder trägt. 4 Es waren möglicherweise die zwei Bilder Bäuerinnen auf dem Weg zur Feldarbeit und Kartoffelernte , die Gleichen-Rußwurm schon im Februar 1873 unter den Titeln Sommer und Herbst in der Weimarer Kunstschule gezeigt hat; von Mai bis September desselben Jahres waren beide dann wohl in der Weltausstellung inWien mit den Titeln Sommermittag, Ernte und Herbstlandschaft, Kartoffelernte zu sehen. Nicht das Tun der Bauern steht in 4 Ölstudie auf Papier, 16,3×27,4 cm, Museum im Kulturspeicher Würzburg, Inv.-Nr. 01086. Wie viele Studien und Aqua- relle aus Gleichen-Rußwurms Nachlass ist auch diese auf ein Auflageblatt geklebt, das Datierung und Ortsangabe trägt: »Bonn- land August 72«. Das laut Bezeichnung 1873 in Weimar gemalte Gemälde geht also auf eine Studie aus dem heimischen Bonnland zurück.

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