Leseprobe

Die Atmosphäre eines Augenblicks — 159 wie Fontainebleau (Kat. 103) ist dem Titel und dem Motiv nach eine Referenz an die Künst- ler von Barbizon. Doch während Corot selbst an der Technik der Radierung offenbar nur wenig interessiert war, zu überschaubar sind seine eigenhändigen Versuche darin, 8 hat Gleichen-Rußwurm seine Vorlagen grundsätzlich auch selbst auf die Platte oder den Stein gebracht. Betrachtet man eine von Corot eigenhändig gestochene Platte, zeigt sich ein durchaus großer Unterschied im künstlerischen Ausdruck, vor allem in der Linienführung. Skizzenhaft, fast hastig geht er in Paysage d’Italie (Abb. 35) vor und macht selbst vor dem Plattenrand nicht halt. Verglichen damit sind Gleichen-Rußwurms Arbeiten sorgfältiger und zeitaufwendiger ausgearbeitet. Egal, ob in Gemälden oder Graphiken, befinden sich Figuren in Gleichen-Ruß- wurms Werken, so beschreiben diese in der Regel genrehafte Ansätze und sind mehr als bloße Staffage. Sie suggerieren durch ihre Präsenz beim Betrachter eine Stimmung, jedoch ohne dass sie und ihre Handlung zum Hauptgegenstand des Bildes werden. Die Interpreta- tion, dass diese Figuren »den Schlüssel zum Verständnis seiner [Gleichen-Rußwurms] Natur- und Gesellschaftsauffassung [bilden], der durchaus eine christlich-religiöse Bedeu- tungsdimension eigen ist«, 9 führt vielleicht etwas zu weit und trifft eher den Kern der Kom- positionen von Jean-François Millet. Auch wenn schon Zeitgenossen immer wieder Gleichen-­ Rußwurms Druckgraphik von Millet beeinflusst sahen, 10 so liegt eine Wesensverwandt- schaft mit Werken von Camille Pissarro doch viel näher. Diese Beobachtung hatte bereits Isolde Härth-Ragaller gemacht: »Wie bei ihm [Pissarro] so sind auch bei Gleichen-Ruß- wurm die Bauern nicht erhabener dargestellt, als sie es sind, vielmehr gehen sie in den für sie typischen Bewegungen ihren Tätigkeiten auf den Feldern nach«. 11 Charakteristika von Gleichen-Rußwurms Druckgraphik Wie intensiv sich Gleichen-Rußwurmmit der Druckgraphik auseinandersetzte und mit ihr experimentierte, zeigt eine besondere Rarität in seinemWeimarer Nachlass. Dort hat sich der Abzug (Abb. 36) von einer radierten Platte erhalten, die links oben mit »Versuche 21. März 1897« betitelt und signiert ist. Darauf sind diverse Motive zu sehen, drei Land- schaften und eine weibliche Rückenfigur sowie mehrere typographische Entwürfe. So ist rechts neben der Figur von oben nach unten »Winterlandschaft« zu lesen, auf der linken Seite hingegen von unten nach oben »Thiergarten«. In der oberen Bildhälfte befinden sich zwei Darstellungen mit Segelbooten auf einem See, wovon die rechte betitelt ist: »Schön blau ist der See«. Darunter hält Gleichen-Rußwurm die Essenz dieser Versuchsplatte fest: »feine Nadel, breite Nadel«. Durch eine dreifache Unterstreichung hebt er letztere als das für seine Zwecke am besten geeignete Werkzeug hervor. Zentral daneben setzt er noch eine unterschiedliche Schreibweise der Datierung, die er nun mit »21/3 97 Berlin« abkürzt. Zu nennen ist außerdem der Schriftzug »Kupferdruckerei O Felsing« rechts unten im Bild, der die Druckerei in Berlin bezeichnet, bei der Gleichen-Rußwurm im Allgemeinen seine Ori- ginalradierungen produzieren ließ. 12 Dass es ihm bei diesen Versuchen nur auf verschie- dene Erprobungen mit der Kupferplatte ankam, belegt die Tatsache, dass er sich nicht die Mühe machte, spiegelverkehrt zu arbeiten, damit am Ende auf dem Abzug alles seiten- richtig erscheint. 8 Vgl. Norbert Suhr: Souvenir, Effet und Impression (Anm. 5), S. 18. 9 Ziegler 2010b, S. 231. 10 Vgl. Frenzel/Lehrs 1903, S. 32–34, bes. S. 34, 38. 11 Isolde Härth-Ragaller: Ludwig von Glei- chen-Russwurm. In: Ausst.-Kat. Würzburg. 1983, S. 4–10, hier S. 8. 12 Auch der Weimarer Radierverein ließ die meisten seiner Drucke dort anfertigen; siehe Willibald Franke: 100 Jahre im Dienste der Kunst. Erinnerungsgabe der Firma O. Felsing. Berlin 1897, S. 136.

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