Leseprobe

Barbizon und die Folgen — 13 wurm war zu diesem Zeitpunkt bereits 33 Jahre alt. Der frühe Tod seiner Frau Elisabeth kurz nach der Geburt des Sohns Alexander im Jahr 1865 hatte ihn in eine tiefe Lebenskrise gestürzt. Seine vorgezeichnete Rolle als Erbe eines Ritterguts mit zugehörigem Landbesitz erschien ihm obsolet geworden. In Weimar schrieb er sich seinen Interessen entsprechend bei dem Berliner Maler Max Schmidt ein, der das Landschaftsfach unterrichtete. Die Weimarer Kunstschule war erst 1860 von Carl Alexander gegründet worden und unterschied sich in vielen Bereichen von den älteren traditionsverpflichteten Akademien in Deutschland. Nach demWunsch des Großherzogs galt der liberale Grundsatz von der Freiheit der Kunst, wonach jeder Student seine Lehrer selbst wählen konnte. Mit Stanislaus Graf von Kalckreuth, einem Schüler Johann Wilhelm Schirmers an der Düsseldorfer Akademie, wurde ein Landschaftsmaler zum Direktor berufen, der das Studium der Natur beförderte und das Landschaftsfach gleichrangig neben der Historien- und Genremalerei einführte, was ein Novum war. Max Schmidt war 1867 als Nachfolger für den Düsseldorfer Alexander Michelis, der als erster die Studenten zu systematischen Studien vor der heimischen Natur angeleitet hatte, nach Weimar gekommen. Als Schüler des Romantikers Karl Blechen war Schmidt mit seinen stillen holsteinischen Seen- und Heidelandschaften beim Publikum sehr erfolgreich. Auch die ersten Gemälde Gleichen-Rußwurms, mit denen er sich 1870/1871 imAusstellungsraum der Kunstschule der Öffentlichkeit vorstellte, darunter die erwähnte Seelandschaft, zeigten den spätromantischen Einfluss seines Lehrers. Noch bevor dieser an die Königsberger Aka- demie wechselte, wurde jedoch im Frühjahr 1871 Theodor Hagen auf die vakante Stelle der Figurenmalerei berufen. Als Landschaftsmaler gleichfalls in der Tradition der Düsseldor- fer Malerschule stehend, wandelte er sich in Weimar zu jenem maßgeblichen »Entwickler von Individualitäten«, 10 der nicht nur Gleichen-Rußwurm, sondern auch andere Schüler wie Karl Buchholz, EduardWeichberger, Hans Peter Feddersen, Franz Bunke, Paul Tübbecke, Christian Rohlfs und Paul Baum zur Entfaltung ihrer individuellen künstlerischen Anlagen ermutigte. Mit Hagen, der schon 1867 auf einer Parisreise Werke der Meister von Barbizon studiert hatte, setzte in Weimar zudem früher als an anderen deutschen Akademien eine Auseinandersetzung mit der neuen französischen Freilichtmalerei ein. 11 Barbizon und die realistische Freilichtmalerei In Barbizon, unweit von Paris am Rande des Waldes von Fontainebleau gelegen, hatte sich ab den 1840er Jahren eine Bewegung entwickelt, die die Künstler aus ihren Ateliers in der Stadt auf das Land ziehen ließ, um sich angesichts der überall spürbaren Folgen der zuneh- menden Industrialisierung ›en plein air‹ der Unberührtheit der freien Natur zu vergewis- sern. Dabei suchten die Künstler um Jean-François Millet, Gustave Courbet, Camille Corot, Charles-François Daubigny und Théodore Rousseau nicht mehr das erhabene oder pitto- reske Motiv, wie zuvor auf der traditionellen Grand Tour durch die Alpen und Italien, sondern das Ursprüngliche und Einfache in der nahen Umgebung und im bäuerlichen Leben. Während die unmittelbare Studie im Freien auch weiterhin im traditionellen Sinn als Teil eines Motivarchivs oder als Vorstudie für ein Gemälde Verwendung fand, experi- mentierten die Künstler von Barbizon imGrenzbereich zwischen vorbereitender Studie und vollendetemWerk, um die mit der Freilichtmalerei verbundene Spontaneität und Unmittel- barkeit in den fertigen Bildern zu bewahren. Auch technische Neuerungen wie die ab 1841 entwickelten Tubenfarben und die zerlegbare Reisestaffelei trugen dazu bei, dass die Ölmalerei allmählich aus dem Atelier ins Freie verlagert wurde. 10 Johannes von Kalckreuth: Wesen und Werk meines Vaters. Lebensbild des Malers Graf Leopold von Kalckreuth. Hamburg 1967, S. 94. 11 Scheidig 1971, S. 55 – 61, hier S. 55; Ziegler 2010a, S. 197.

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1