Leseprobe
mathematisch gelöst.«1 Das Gemälde war 1839 auf der Berliner Akademieausstellung zu sehen. Im glei- chen Jahr erwarb die Akademie das Bild. Nach dem Krieg ging es verloren,2 lediglich ein Schwarz-Weiß- Foto ist überliefert (Abb. 1). Eine detaillierte, sorg- fältig konstruierte Vorzeichnung hat sich hingegen erhalten (Kat. 58). Bereits einige Jahre zuvor veröf- fentlichte Hummel in seinem 1824 erschienenen Traktat Die Freie Perspektive Illustrationen mit perspektivischen Konstruktionen von ineinander reflektierenden Spiegeln unter verschiedenen Win- keln (Abb. 2).3 Der Bildtitel Tribunal geht zurück auf die aus der Antike stammende Bezeichnung für einen erhöhten Platz der Rechtsprechung. Im Kata- log der Akademieausstellung kommentierte der Künstler sein Werk: »Eine perspektivische Aufgabe – Tribunal mit Halbsäulen, deren sechs Zwischen- weiten mit ebenso viel Spiegeln belegt sind, gegen- über ein Saal mit zwei Säulenreihen (kleine drei- schiffige Basilika). Der Zuschauer befindet sich vor dem Tribunal im mittleren Schiff. Das Tribunal erhält das Licht durch eine Öffnung in der Decke, welche auch mit Spiegeln belegt ist.«4 Hummel malte einen Kaleidoskop-artigen Spie- gelsaal, der sich endlos in die Tiefe zu erstrecken scheint. Sechs Spiegel, von denen vier sichtbar sind, bedecken die Wände zwischen sieben Säulen. Der Saal, dessen Decke ebenfalls spiegelt, wirkt wie ein Bühnenraum, durch seine Deckenöffnung fällt Licht. Zwei in antike Gewänder gekleidete männ liche Figuren und ein Hund halten sich darin auf. Der Mann im Hintergrund hat sich mit erhobenem Arm dem Hund zugewandt. Der andere links ist im Begriff, den Raum über eine Stufe hinab zu verlas- sen, in seiner Hand hält er den aufgerollten Grund- rissplan der hier dargestellten Architektur-Fiktion: In den Spiegeln erstreckt sich nach hinten der gegenüber liegende Raum einer dreischiffigen Säulenhalle, in der vielfach die beiden männlichen Figuren sowie der Hund erscheinen. Zahlreiche Seitenfenster der Halle gewähren Landschaftsaus- blicke. Die Spiegelbilder spiegeln sich gegenseitig und verkleinern sich unendlich im Fluchtpunkt einer imaginären Perspektive. Nicht allein sein mathematisches Können und die glänzende Beherrschung der Perspektive stellte Hummel hier überzeugend zur Schau. Dem Thema Spiegelung wohnt zugleich eine tiefere, seelische Dimension inne. Der Spiegel als altes Symbol der Selbsterkenntnis thematisiert die menschliche Innenwelt, die psychische Verfasstheit. Sich selbst hat Hummel indes nicht als Spiegelbild gemalt. Die individuelle Selbstbetrachtung und Hinter fragung des eigenen »Ichs« im Spiegel ist nie direkt Thema in seinem Œuvre. Dennoch kann das Tribunal nicht nur als perspektivisches Lehrstück zum Thema Wahrnehmung gelesen werden. Sein Titel – ein Synonym für Gerichtshof – deutet zugleich hin auf das Gefühl des Ausgeliefertseins. Für den Betrachter wird das Bild so zum verunsi- chernden Labyrinth der Selbstbefragung, zum Labyrinth ohne Ausgang. Hummel schuf einen »Irr-Sinn-Garten«, aus dem heraus kein Weg führt.5 Damit griff er nicht nur auf die Idee der Irrgärten und Labyrinthe der Renaissance und des Barock zurück, zugleich weist sein Werk voraus auf die Moderne, etwa den Surrealismus mit seinen Para- doxien (Abb. 3).6 ANFÄNGE UND ERSTE JAHRE IN BERLIN Hummel schuf ein höchst vielseitiges Werk. Figu- renszenen in Innen- und Außenräumen sind dort ebenso anzutreffen wie Bildnisse, Landschaften und Naturstudien. Stilistisch orientierte sich der Maler an sämtlichen zeitgenössischen Strömungen wie Klassizismus, Romantik und Realismus. Im Fol- genden wird die klassizistische Schaffensphase zu gunsten jener Werke vernachlässigt, in denen Hummels Vorliebe für optische Erscheinungen gesteigerten Ausdruck fand und denen innovatives Potenzial für kommende künstlerische Entwick lungen innewohnt.
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