Leseprobe

62 / 63 Doppelseite gezogenen Ansicht erweiterte er den Ausschnitt (Abb. 2) und gab die berühmte Kirche nunmehr vollständig wieder. Den Horizont verlegte er nach oben, um der Stadt im Verhältnis zum Him- mel mehr Raum zu gewähren. Am auffälligsten ist jedoch, dass der angehende Maler seine Stadtan- sicht über der locker mit dem Bleistift angelegten Vorzeichnung in weiten Partien mit Feder und Lineal zentralperspektivisch korrekt konstruierte, wie ein Architekt am Reißbrett. Die Zeichnung diente ihm als Vorlage für ein Gemälde, bei dem er den Ausschnitt nochmals nach rechts erweiterte, im Vordergrund präzisierte und dem Himmel wieder mehr Raum widmete (Kat. 77).17 Die Verbindung von einfachen Häusern, ländlich anmutenden Feldern und Gärten mit der architektonisch anspruchsvollen, exakt konstruier- ten Kulisse vor dem weiten Blau des Himmels bestimmt die reizvolle, leicht unterkühlte Atmo- sphäre des Gemäldes. Als unmissverständliches Zei- chen dafür, dass es sich um einen Fensterausblick handelt, ergänzte Hummel parallel zur unteren Bild- kante noch die Fensterbrüstung als schmalen grauen Streifen. Auch wenn die beiden Skizzen vermutlich unabhängig voneinander entstanden und jeweils eine andere Funktion innehaben – Weinbrenner zeichnete zur eigenen Erinnerung, Hummel im Hin- blick auf ein Gemälde –, so ist ihre unterschiedliche Auffassung dennoch bezeichnend: Der Maler Hum- mel konstruiert, wie man es von einem Architekten erwarten würde, der Architekt Weinbrenner aber geriert sich als Maler. Offensichtlich hat Hummel in Rom sehr bald seine Kenntnisse im perspektivischen Zeichnen ver- tieft. Da er an der Kasseler Akademie nicht nur Malerei studiert, sondern auch die Bauklasse besucht hatte,18 wird er bereits über grundlegende Fähigkeiten verfügt haben. Was liegt näher, als zu vermuten, dass es Weinbrenner war, der ihn erneut auf dieses Thema stieß und ihm weiterführendes Wissen vermittelte?19 Weinbrenner hat in Rom zahlreiche Schüler unterschiedlicher Nationalitäten unterrichtet, darunter nicht nur angehende Archi- tekten, sondern auch Maler, wie seinen Reisegefähr- ten Carstens. Dies berichtete zumindest dessen Vertrauter und Biograf, Fernow,20 der Weinbrenner als Lehrer so sehr schätzte, dass er ihn an einem Lehrbuch für angehende Maler beteiligen wollte, welches er ab 1795 für den Zürcher Verleger Johann Heinrich Füssli plante. »Um dieses Werk noch nützlicher zu machen«, so Fernow brieflich, »müßte [. . .] noch ein kurzer Abriß [. . .] hinzugefügt werden, nämlich Perspektive u Optik [. . .]. Herr Weinbrenner, der hier schon mehrere Beweise von seiner leichten u bündigen Methode in diesen beiden Wissen­ schaften den Künstlern die nöthigen Begriffe bei­ zubringen, gegeben hat, ist erböthig die Ausarbei- tung dieses Abschnitts zu unternehmen [. . .].«21 Nach Hans Caspar Escher,22 dessen unpubli­ zierter Briefwechsel ein interessantes Zeugnis für Weinbrenners Unterrichtsmethoden ist, verzichtete Weinbrenner bei seinen Freunden auf Lohn für seinen Unterricht. Hummel besaß aber auch die zum Studium der Perspektive notwendige Literatur. »Jetzo werd ich mich ernstlich auf die Perspectiv legen«, schrieb Charles Louis Du Ry am 1. August 1795 an seinen Vater, »und sie aus Büchern, die mir Herr Humel leihen will, studieren.«23 Die Grund­ lagen für Hummels Interesse an Perspektive wurden also nicht erst in seiner Berliner Zeit, sondern bereits in Rom gelegt. Dank Weinbrenner beherrschte er 1795 das Metier so weit, dass er seine Lehrbücher verleihen konnte. UNTERWEGS Der enge Kontakt zwischen Weinbrenner, Wolff und Hummel wird auf den beiden langen Reisen intensi- viert worden sein, die sie gemeinsam unternahmen. Weinbrenner hebt in seinen Denkwürdigkeiten hervor, dass sie 1794 bewusst zu Fuß nach Neapel gingen, »um unterwegs alles Interessante zu zeich- nen, während einige andere von unsrer Gesellschaft einige Tage später mit Vetturini uns nach Neapel folgten.«24 Entlang der alten Via Appia hatten sie als erste Tagesetappe Cisterna di Latina eingeplant, immerhin circa 50 Kilometer von Rom entfernt.

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