Leseprobe

104 / 105 praktische Anwendung leichter handhabbaren Ver- fahren formalisiert. Darüber hinaus schien die neue Methode auch auf besonders augenfällige Weise die Analogie der perspektivischen Konstruktion mit dem menschlichen Sehen plausibel zu machen. Denn ein Verfahren, bei dem das Einmessen der Objekte im Bild direkt von der Spitze der Sehstrah- lenpyramide, also der gedachten Position des Auges aus geschah, bekräftigte eindrücklich, dass es sich auch beim physiologischen Sehprozess um die Wahrnehmung von Winkelkonstellationen handelte, unter denen sich die Gegenstände in ihrer Beziehung zum Betrachter entfalteten. Dass die Perspektive dabei ein »einäugiges« Sehen abbildete, wurde in dieser Zeit noch nicht proble- matisiert. Im künstlerischen Arbeitsprozess führte dies zu allerlei Adaptionsbemühungen, wie etwa dem Tragen von Augenklappen oder speziellen Brillen, ähnlich wie Hummel sie in Zielckes Bild ver- wendete. In einer Epoche wie der des 18. Jahrhunderts, die sich intensiv mit Fragen subjektiver Erkenntnis sowie Wahrnehmungstheorien auseinandersetzte, konnte »sich mit Perspektive zu beschäftigen« somit zugleich bedeuten, sich Rechenschaft über die eigene Wahrnehmung zu geben, das eigene Sehen zu schulen und die Augen zum »aufgeklär- ten« Blick auf die Welt zu erziehen. Nicht anders scheint die ungeheure Attraktivität der Perspektiv- lehre speziell im ausgehenden 18. Jahrhundert sowohl bei Künstlern als auch bei Laien erklärbar zu sein. So nahmen beispielsweise an den Perspektive- kursen des Bildhauers und Architekten Maximilian Verschaffelt in Rom Ende der 1780er Jahre neben Johann Wolfgang von Goethe und Carl Philipp Moritz ebenso die Herzogin Anna Amalia und ihre Hofdame Luise von Göchhausen teil. Aus Bemer- kungen in deren Briefen sowie aus Goethes eige- nen Zeichnungen wird ersichtlich, dass Verschaffelt nach dem System Lamberts unterrichtete.4 Während Hummels Romaufenthalt, der nur wenige Jahre später im Frühjahr 1792 begann, war es der Architekt Friedrich Weinbrenner, der inner- halb der deutschen Künstlerkolonie als der Spezia- list für Perspektive galt und Künstlern wie Laien darin Unterricht gab. Auch er vertrat in seiner Lehre die modernen Konstruktionsverfahren, und wie Carl Ludwig Fernow berichtet, gehörte sogar Asmus Jakob Carstens zu seinen Schülern.5 Johann Erdmann Hummel, der zwar sicher bereits während seines Kunst- und Architekturstudiums in Kassel mit der Perspektivlehre in Berührung gekommen war, dürfte von Weinbrenner und auch von dem Landschaftsmaler Johann Christian Reinhart6 – mit beiden war er eng befreundet – in dieser Hinsicht frische Impulse erhalten haben. Davon zeugen die in Rom entstandenen Stadtansichten sowie Archi- tektur- und Landschaftsskizzen, etwa das Gemälde Blick auf die Villa Medici und S.Trinità in Rom aus der Wohnung des Künstlers und die Gouache Blick auf das Kolosseum in Rom (Kat. 77, 76), die in ihrem klaren kompositorischen Aufbau und der schlüssi- gen perspektivischen Anlage eine intensive Ausein- andersetzung mit dieser Disziplin voraussetzen. Als Hummel seine Professur in Berlin antrat, konnte er dort an bereits existierende Lehrkon- zepte anknüpfen, die Lamberts Verfahren sowie weitere Schriften moderner Theoretiker berück- sichtigten. Friedrich Gilly hatte in den späten 1790er Jahren entsprechende Unterrichtsentwürfe für die neu gegründete Bauakademie entwickelt, die er dann aber durch seinen frühen Tod im Jahr 1800 kaum mehr erproben konnte.7 EIN INSPIRIERENDES HANDBUCH Aufgrund seiner doppelten Ausbildung als Archi- tekt und Maler brachte Hummel in idealer Weise einerseits das für die mathematisch-naturwissen- schaftlichen Grundlagen der Perspektive und Optik nötige Abstraktionsvermögen mit, andererseits konnte es ihm als bildendem Künstler leichter fal- len, die unterschiedlichen Voraussetzungen und Bedürfnisse der Akademieschüler einzuschätzen und adäquat auf diese einzugehen. Dem trugen seine über die Jahre parallel zum Unterricht her- ausgegebenen Publikationen Rechnung, die eine

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