Leseprobe

30 / 31 TRIBUNAL. EIN SPIEGELSAAL Als objektivierendes und zugleich verfremdendes Instrument vermittelt der Spiegel zwischen Sein und Schein, zwischen Realität und Magie. Im Spiegel eröffnen sich neue Perspektiven. Spiegelungen gehören neben mathematisch berechneten Raum- konstruktionen und Licht-Schatten-Phänomenen zu den wesentlichen Themen von Johann Erdmann Hummel. Der Künstler erforschte die Wahrneh- mung des Sichtbaren sowohl im Spiegel selbst als auch in reflektierenden Materialien wie Fenster- scheiben, in polierten Oberflächen etwa von Granit, Metall, Glas, in Gewässern, sogar in Regenpfützen. Sein ausgeprägtes Interesse an Reflexionen führte Hummel zu originellen Bildfindungen und raffinier- ten Kompositionen. Mit gemalten Spiegelungen brach er Bildräume auf und dynamisierte damit die Darstellung. Die Wiedergabe von sich außer- halb des Bildrahmens befindenden Gegenständen im gemalten Spiegel diente der Erweiterung des dargestellten Raums, zugleich aber auch der Ver­ rätselung des innerhalb des Bildes Sichtbaren. So wirken die Spiegelungen in Hummels Bildern mitunter real und zugleich surreal. Sozusagen als »Quintessenz« seiner Experi- mente mit Reflexionen sei die späte Komposition Tribunal an den Anfang dieses Aufsatzes gestellt. Als Hummel sein wohl bedeutendstes und anspruchsvollstes Werk zu diesem Thema schuf, war er bereits 70 Jahre alt. Bezeichnenderweise nannte der Maler die komplexe, durchaus verwir- rende Darstellung eines Spiegelsaals »Kunststück«. In einem Brief an seinen Schüler Theodor Pelissier berichtete er: »Voriges Jahr habe ich ein Kunst- stück gemacht, es war nemlich ein [. . .] Zimmer mit [. . .] Spiegel[n], welche ineinander reflectirten. Die Aufgabe war sehr verwickelt, jedoch streng

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